Rezension Rezension (5/5*) zu Offene See: Roman von Myers, Benjamin.

Literaturhexle

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Eine ungewöhnliche Freundschaft im Nachkriegsengland

„Offene See“ ist ein ruhiges Buch. Es besticht durch seine poetische Sprache, die bildhaften Landschaftsbeschreibungen und die wunderbare Zeichnung der beiden Protagonisten, in deren Empfindungen man sich sehr genau einfühlen kann.

Nur kurz begegnet uns der Ich-Erzähler als alter Mann am Anfang und am Ende des Romans. Sein Leben besteht aus Routinen, doch auch er war einmal jung. Er erinnert sich zurück an das Nachkriegsjahr 1946, als er seinen Schulabschluss machte und auf Wanderschaft ging, um Nordengland besser kennenzulernen und schließlich das offene Meer zu sehen.

Robert Appleyard stammt aus einer Bergarbeiterstadt im Norden Englands. Es wird Kohle abgebaut, alle Männer sind im Bergwerk tätig und auch Roberts berufliche Zukunft scheint vorbestimmt unter Tage zu liegen, eine wirkliche Berufswahl hat man in diesen Tagen nicht. Die Menschen sind von Entbehrungen gezeichnet, viele Männer sind auf dem Feld gefallen. Es liegt noch eine Schwere auf dem Dasein:
„Es war Krieg gewesen, und obwohl der Kampf zu Ende war, tobte er noch immer in den Männern und Frauen, die ihn mit sich nach Hause genommen hatten. Er lebte in ihren Augen weiter oder hing ihnen um die Schulter wie ein blutgetränkter Umhang.“ (S. 13 Epub)

Robert möchte raus aus dieser Welt. Zumindest ein paar Monate will er sich als Auszeit nehmen, bevor er in den Kohlebergbau einfährt: „Solange ich zurückdenken konnte, hatte die Unausweichlichkeit eines Arbeitslebens in der staubigen Dunkelheit wie ein Schreckgespenst in meinem Unterbewusstsein gelauert und alles mit einem dunklen Tuch bedeckt. Anfangs hatte ich mich vor der Vorstellung gefürchtet, doch in letzter Zeit lehnte ich sie mit einer Unnachgiebigkeit ab, die an Hass grenzte.“ (S. 21 Epub)

Robert liebt Natur sowie Tiere, hat schon immer mit Leidenschaft die Vogelwelt beobachtet und zahlreiche Aufzeichnungen darüber gemacht. Er sehnt sich nach etwas Neuem, nach Abenteuer, vor allem nach Weite.
Mit kleinem Gepäck bricht er auf. Er genießt die Landschaft in vollen Zügen, verdingt sich auf seiner Wanderung als Tagelöhner auf Bauernhöfen. Überall sind seine kräftigen Hände gern gesehen, im Gegenzug bekommt er etwas zu essen, mal mehr, mal weniger. Er begegnet anderen vom reisenden Volk, kommt mit verschiedensten Menschen ins Gespräch. Gern spricht man in England über das Wetter, doch: „In diesen Gesprächen mit Fremden wurde der Krieg kaum erwähnt; diese Bestie blieb begraben. Sie war noch zu frisch, um exhumiert zu werden.“ (S. 22 Epub)

Durch Zufall läuft er in eine Sackgasse hinein, an deren Ende sich ein großes, eingewachsenes Grundstück befindet, auf dem ein kleines Cottage steht. Dort lebt die großgewachsene Dulcie allein mit ihrem Deutschen Schäferhund. Robert fühlt sich von Anfang an auf eigentümliche Art zu dieser Einsiedlerin hingezogen. Sie ist sehr gastfreundlich, lädt zu Brennnesseltee und Rosinenkeksen ein, die beiden kommen ins Gespräch:
„Kein Plan ist ein guter Plan“, sagte sie, nachdem einige Zeit verstrichen war. „Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke auf einen wartet. Der sonnige Zauber eines Morgens birgt vielleicht schon nachmittägliche Gewitterwolken. Das Leben ist lang, wenn du jung bist, und kurz, wenn du alt bist, aber immer unsicher.“ (Epub S. 33)

Von Dulcie geht Lebenserfahrung und Weisheit aus, aber auch eine tiefe Traurigkeit. Der junge Mann bleibt einige Zeit bei ihr. Er genießt den schier unerschöpflichen Vorrat ihrer Lebensmittel, aus dem sie köstliche Speisen zubereitet. Im Gegenzug versucht er, Reparaturen und schwere Arbeiten für sie zu erledigen. Auch verrichtet er kleine Besorgungen in dem nahen Küstenort, wo man Dulcie offensichtlich schätzt. Recht schnell erfährt Robert, dass sie einen schweren Schicksalsschlag verwinden musste, was genau, bleibt aber im Dunklen.

Robert ist hin und her gerissen, ob er Dulcies Gastfreundschaft noch länger in Anspruch nehmen oder weiter ziehen soll. Im verwachsenen Teil des Gartens entdeckt er ein kleines verwahrlostes Häuschen und macht es sich zur Aufgabe, dieses instandzusetzen, zu reparieren und zu streichen. Er ahnt nicht, dass er mit dieser Aufgabe auch verschüttete, zum Teil schmerzhafte Erinnerungen aus Dulcies Leben frei legt, die zudem ihre trüben Tage erklären.

Myers hat eine sehr warmherzige, berührende Geschichte geschrieben, die niemals ins Kitschige abgleitet. Die Dialoge der Protagonisten sind zutiefst menschlich und von Weisheit durchdrungen:
„Eine famose Haltung. Tun wir so, als käme das Morgen niemals.“
„Gestern ist es aber gekommen“, sagte ich scherzhaft.
„Oh, der war gut, sagte sie. „Dann lass uns das Tagebuch wegwerfen, den Kalender verbrennen, die Uhren zertrümmern und stattdessen so tun, als wäre das Heute unendlich und würde nur durch den dunklen Himmel und den Ruf der Eule unterbrochen. Ich will damit sagen, drehen wir der Zeit eine lange Nase, denn Zeit ist auch bloß ein System von selbst gewählten, willkürlichen Grenzen, die einengen und kontrollieren sollen. Möge das Heute für immer währen, Robert. (…) Wir untergraben just das, was die Menschheit zusammen hält. Wir werfen die Ketten ab. Ist das nicht genial?“ (Epub S. 74)

Zwei unterschiedlich beschädigte Seelen helfen sich gegenseitig: Robert hilft Dulcie, sich mit ihrer verdrängten Vergangenheit und auch ihrer Liebe auseinanderzusetzen. Dulcie zeigt Robert neue Horizonte und Möglichkeiten. Sie hilft ihm, selbst zu entscheiden, welche Lebensziele er erreichen möchte. Beide tun sich ungemein gut und entwickeln sich unter dem Einfluss des anderen weiter.

Erwähnen möchte ich noch, dass auch die Literatur ein weiteres Thema in diesem wunderbaren Roman darstellt. Robert, der in seinem bisherigen Leben die Schule eher als Last empfand und wenig mit Kunst, Literatur und Musik zu tun hatte, wird in diese Welt der Geschichten und der Poesie eingeführt. Eine Welt, die neue Saiten in ihm zum Klingen bringt…

Es ist ein Buch über Freundschaft, über Verlust, über die Liebe zur Literatur, über das Leben an sich, Lebensplanung und Lebensziele. Man könnte es auch als Entwicklungsroman bezeichnen. Wie auch immer: Ich wünsche diesem wunderschön gestaltetem Buch viele Leser und bewerte im Brustton der Überzeugung mit 5/5 Lesesternen.

 

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Eine ungewöhnliche Freundschaft im Nachkriegsengland


„Offene See“ ist ein ruhiges Buch. Es besticht durch seine poetische Sprache, die bildhaften Landschaftsbeschreibungen und die wunderbare Zeichnung der beiden Protagonisten, in deren Empfindungen man sich sehr genau einfühlen kann.

Nur kurz begegnet uns der Ich-Erzähler als alter Mann am Anfang und am Ende des Romans. Sein Leben besteht aus Routinen, doch auch er war einmal jung. Er erinnert sich zurück an das Nachkriegsjahr 1946, als er seinen Schulabschluss machte und auf Wanderschaft ging, um Nordengland besser kennenzulernen und schließlich das offene Meer zu sehen.

Robert Appleyard stammt aus einer Bergarbeiterstadt im Norden Englands. Es wird Kohle abgebaut, alle Männer sind im Bergwerk tätig und auch Roberts berufliche Zukunft scheint vorbestimmt unter Tage zu liegen, eine wirkliche Berufswahl hat man in diesen Tagen nicht. Die Menschen sind von Entbehrungen gezeichnet, viele Männer sind auf dem Feld gefallen. Es liegt noch eine Schwere auf dem Dasein:
„Es war Krieg gewesen, und obwohl der Kampf zu Ende war, tobte er noch immer in den Männern und Frauen, die ihn mit sich nach Hause genommen hatten. Er lebte in ihren Augen weiter oder hing ihnen um die Schulter wie ein blutgetränkter Umhang.“ (S. 13 Epub)

Robert möchte raus aus dieser Welt. Zumindest ein paar Monate will er sich als Auszeit nehmen, bevor er in den Kohlebergbau einfährt: „Solange ich zurückdenken konnte, hatte die Unausweichlichkeit eines Arbeitslebens in der staubigen Dunkelheit wie ein Schreckgespenst in meinem Unterbewusstsein gelauert und alles mit einem dunklen Tuch bedeckt. Anfangs hatte ich mich vor der Vorstellung gefürchtet, doch in letzter Zeit lehnte ich sie mit einer Unnachgiebigkeit ab, die an Hass grenzte.“ (S. 21 Epub)

Robert liebt Natur sowie Tiere, hat schon immer mit Leidenschaft die Vogelwelt beobachtet und zahlreiche Aufzeichnungen darüber gemacht. Er sehnt sich nach etwas Neuem, nach Abenteuer, vor allem nach Weite.
Mit kleinem Gepäck bricht er auf. Er genießt die Landschaft in vollen Zügen, verdingt sich auf seiner Wanderung als Tagelöhner auf Bauernhöfen. Überall sind seine kräftigen Hände gern gesehen, im Gegenzug bekommt er etwas zu essen, mal mehr, mal weniger. Er begegnet anderen vom reisenden Volk, kommt mit verschiedensten Menschen ins Gespräch. Gern spricht man in England über das Wetter, doch: „In diesen Gesprächen mit Fremden wurde der Krieg kaum erwähnt; diese Bestie blieb begraben. Sie war noch zu frisch, um exhumiert zu werden.“ (S. 22 Epub)

Durch Zufall läuft er in eine Sackgasse hinein, an deren Ende sich ein großes, eingewachsenes Grundstück befindet, auf dem ein kleines Cottage steht. Dort lebt die großgewachsene Dulcie allein mit ihrem Deutschen Schäferhund. Robert fühlt sich von Anfang an auf eigentümliche Art zu dieser Einsiedlerin hingezogen. Sie ist sehr gastfreundlich, lädt zu Brennnesseltee und Rosinenkeksen ein, die beiden kommen ins Gespräch:
„Kein Plan ist ein guter Plan“, sagte sie, nachdem einige Zeit verstrichen war. „Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke auf einen wartet. Der sonnige Zauber eines Morgens birgt vielleicht schon nachmittägliche Gewitterwolken. Das Leben ist lang, wenn du jung bist, und kurz, wenn du alt bist, aber immer unsicher.“ (Epub S. 33)

Von Dulcie geht Lebenserfahrung und Weisheit aus, aber auch eine tiefe Traurigkeit. Der junge Mann bleibt einige Zeit bei ihr. Er genießt den schier unerschöpflichen Vorrat ihrer Lebensmittel, aus dem sie köstliche Speisen zubereitet. Im Gegenzug versucht er, Reparaturen und schwere Arbeiten für sie zu erledigen. Auch verrichtet er kleine Besorgungen in dem nahen Küstenort, wo man Dulcie offensichtlich schätzt. Recht schnell erfährt Robert, dass sie einen schweren Schicksalsschlag verwinden musste, was genau, bleibt aber im Dunklen.

Robert ist hin und her gerissen, ob er Dulcies Gastfreundschaft noch länger in Anspruch nehmen oder weiter ziehen soll. Im verwachsenen Teil des Gartens entdeckt er ein kleines verwahrlostes Häuschen und macht es sich zur Aufgabe, dieses instandzusetzen, zu reparieren und zu streichen. Er ahnt nicht, dass er mit dieser Aufgabe auch verschüttete, zum Teil schmerzhafte Erinnerungen aus Dulcies Leben frei legt, die zudem ihre trüben Tage erklären.

Myers hat eine sehr warmherzige, berührende Geschichte geschrieben, die niemals ins Kitschige abgleitet. Die Dialoge der Protagonisten sind zutiefst menschlich und von Weisheit durchdrungen:
„Eine famose Haltung. Tun wir so, als käme das Morgen niemals.“
„Gestern ist es aber gekommen“, sagte ich scherzhaft.
„Oh, der war gut, sagte sie. „Dann lass uns das Tagebuch wegwerfen, den Kalender verbrennen, die Uhren zertrümmern und stattdessen so tun, als wäre das Heute unendlich und würde nur durch den dunklen Himmel und den Ruf der Eule unterbrochen. Ich will damit sagen, drehen wir der Zeit eine lange Nase, denn Zeit ist auch bloß ein System von selbst gewählten, willkürlichen Grenzen, die einengen und kontrollieren sollen. Möge das Heute für immer währen, Robert. (…) Wir untergraben just das, was die Menschheit zusammen hält. Wir werfen die Ketten ab. Ist das nicht genial?“ (Epub S. 74)

Zwei unterschiedlich beschädigte Seelen helfen sich gegenseitig: Robert hilft Dulcie, sich mit ihrer verdrängten Vergangenheit und auch ihrer Liebe auseinanderzusetzen. Dulcie zeigt Robert neue Horizonte und Möglichkeiten. Sie hilft ihm, selbst zu entscheiden, welche Lebensziele er erreichen möchte. Beide tun sich ungemein gut und entwickeln sich unter dem Einfluss des anderen weiter.

Erwähnen möchte ich noch, dass auch die Literatur ein weiteres Thema in diesem wunderbaren Roman darstellt. Robert, der in seinem bisherigen Leben die Schule eher als Last empfand und wenig mit Kunst, Literatur und Musik zu tun hatte, wird in diese Welt der Geschichten und der Poesie eingeführt. Eine Welt, die neue Saiten in ihm zum Klingen bringt…

Es ist ein Buch über Freundschaft, über Verlust, über die Liebe zur Literatur, über das Leben an sich, Lebensplanung und Lebensziele. Man könnte es auch als Entwicklungsroman bezeichnen. Wie auch immer: Ich wünsche diesem wunderschön gestaltetem Buch viele Leser und bewerte im Brustton der Überzeugung mit 5/5 Lesesternen.


Wieder mal eine tolle Rezension, die Lust auf‘s Lesen macht. Danke!
 
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„Offene See“ ist ein ruhiges Buch. Es besticht durch seine poetische Sprache, die bildhaften Landschaftsbeschreibungen und die wunderbare Zeichnung der beiden Protagonisten, in deren Empfindungen man sich sehr genau einfühlen kann.

Nur kurz begegnet uns der Ich-Erzähler als alter Mann am Anfang und am Ende des Romans. Sein Leben besteht aus Routinen, doch auch er war einmal jung. Er erinnert sich zurück an das Nachkriegsjahr 1946, als er seinen Schulabschluss machte und auf Wanderschaft ging, um Nordengland besser kennenzulernen und schließlich das offene Meer zu sehen.

Robert Appleyard stammt aus einer Bergarbeiterstadt im Norden Englands. Es wird Kohle abgebaut, alle Männer sind im Bergwerk tätig und auch Roberts berufliche Zukunft scheint vorbestimmt unter Tage zu liegen, eine wirkliche Berufswahl hat man in diesen Tagen nicht. Die Menschen sind von Entbehrungen gezeichnet, viele Männer sind auf dem Feld gefallen. Es liegt noch eine Schwere auf dem Dasein:
„Es war Krieg gewesen, und obwohl der Kampf zu Ende war, tobte er noch immer in den Männern und Frauen, die ihn mit sich nach Hause genommen hatten. Er lebte in ihren Augen weiter oder hing ihnen um die Schulter wie ein blutgetränkter Umhang.“ (S. 13 Epub)

Robert möchte raus aus dieser Welt. Zumindest ein paar Monate will er sich als Auszeit nehmen, bevor er in den Kohlebergbau einfährt: „Solange ich zurückdenken konnte, hatte die Unausweichlichkeit eines Arbeitslebens in der staubigen Dunkelheit wie ein Schreckgespenst in meinem Unterbewusstsein gelauert und alles mit einem dunklen Tuch bedeckt. Anfangs hatte ich mich vor der Vorstellung gefürchtet, doch in letzter Zeit lehnte ich sie mit einer Unnachgiebigkeit ab, die an Hass grenzte.“ (S. 21 Epub)

Robert liebt Natur sowie Tiere, hat schon immer mit Leidenschaft die Vogelwelt beobachtet und zahlreiche Aufzeichnungen darüber gemacht. Er sehnt sich nach etwas Neuem, nach Abenteuer, vor allem nach Weite.
Mit kleinem Gepäck bricht er auf. Er genießt die Landschaft in vollen Zügen, verdingt sich auf seiner Wanderung als Tagelöhner auf Bauernhöfen. Überall sind seine kräftigen Hände gern gesehen, im Gegenzug bekommt er etwas zu essen, mal mehr, mal weniger. Er begegnet anderen vom reisenden Volk, kommt mit verschiedensten Menschen ins Gespräch. Gern spricht man in England über das Wetter, doch: „In diesen Gesprächen mit Fremden wurde der Krieg kaum erwähnt; diese Bestie blieb begraben. Sie war noch zu frisch, um exhumiert zu werden.“ (S. 22 Epub)

Durch Zufall läuft er in eine Sackgasse hinein, an deren Ende sich ein großes, eingewachsenes Grundstück befindet, auf dem ein kleines Cottage steht. Dort lebt die großgewachsene Dulcie allein mit ihrem Deutschen Schäferhund. Robert fühlt sich von Anfang an auf eigentümliche Art zu dieser Einsiedlerin hingezogen. Sie ist sehr gastfreundlich, lädt zu Brennnesseltee und Rosinenkeksen ein, die beiden kommen ins Gespräch:
„Kein Plan ist ein guter Plan“, sagte sie, nachdem einige Zeit verstrichen war. „Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke auf einen wartet. Der sonnige Zauber eines Morgens birgt vielleicht schon nachmittägliche Gewitterwolken. Das Leben ist lang, wenn du jung bist, und kurz, wenn du alt bist, aber immer unsicher.“ (Epub S. 33)

Von Dulcie geht Lebenserfahrung und Weisheit aus, aber auch eine tiefe Traurigkeit. Der junge Mann bleibt einige Zeit bei ihr. Er genießt den schier unerschöpflichen Vorrat ihrer Lebensmittel, aus dem sie köstliche Speisen zubereitet. Im Gegenzug versucht er, Reparaturen und schwere Arbeiten für sie zu erledigen. Auch verrichtet er kleine Besorgungen in dem nahen Küstenort, wo man Dulcie offensichtlich schätzt. Recht schnell erfährt Robert, dass sie einen schweren Schicksalsschlag verwinden musste, was genau, bleibt aber im Dunklen.

Robert ist hin und her gerissen, ob er Dulcies Gastfreundschaft noch länger in Anspruch nehmen oder weiter ziehen soll. Im verwachsenen Teil des Gartens entdeckt er ein kleines verwahrlostes Häuschen und macht es sich zur Aufgabe, dieses instandzusetzen, zu reparieren und zu streichen. Er ahnt nicht, dass er mit dieser Aufgabe auch verschüttete, zum Teil schmerzhafte Erinnerungen aus Dulcies Leben frei legt, die zudem ihre trüben Tage erklären.

Myers hat eine sehr warmherzige, berührende Geschichte geschrieben, die niemals ins Kitschige abgleitet. Die Dialoge der Protagonisten sind zutiefst menschlich und von Weisheit durchdrungen:
„Eine famose Haltung. Tun wir so, als käme das Morgen niemals.“
„Gestern ist es aber gekommen“, sagte ich scherzhaft.
„Oh, der war gut, sagte sie. „Dann lass uns das Tagebuch wegwerfen, den Kalender verbrennen, die Uhren zertrümmern und stattdessen so tun, als wäre das Heute unendlich und würde nur durch den dunklen Himmel und den Ruf der Eule unterbrochen. Ich will damit sagen, drehen wir der Zeit eine lange Nase, denn Zeit ist auch bloß ein System von selbst gewählten, willkürlichen Grenzen, die einengen und kontrollieren sollen. Möge das Heute für immer währen, Robert. (…) Wir untergraben just das, was die Menschheit zusammen hält. Wir werfen die Ketten ab. Ist das nicht genial?“ (Epub S. 74)

Zwei unterschiedlich beschädigte Seelen helfen sich gegenseitig: Robert hilft Dulcie, sich mit ihrer verdrängten Vergangenheit und auch ihrer Liebe auseinanderzusetzen. Dulcie zeigt Robert neue Horizonte und Möglichkeiten. Sie hilft ihm, selbst zu entscheiden, welche Lebensziele er erreichen möchte. Beide tun sich ungemein gut und entwickeln sich unter dem Einfluss des anderen weiter.

Erwähnen möchte ich noch, dass auch die Literatur ein weiteres Thema in diesem wunderbaren Roman darstellt. Robert, der in seinem bisherigen Leben die Schule eher als Last empfand und wenig mit Kunst, Literatur und Musik zu tun hatte, wird in diese Welt der Geschichten und der Poesie eingeführt. Eine Welt, die neue Saiten in ihm zum Klingen bringt…

Es ist ein Buch über Freundschaft, über Verlust, über die Liebe zur Literatur, über das Leben an sich, Lebensplanung und Lebensziele. Man könnte es auch als Entwicklungsroman bezeichnen. Wie auch immer: Ich wünsche diesem wunderschön gestaltetem Buch viele Leser und bewerte im Brustton der Überzeugung mit 5/5 Lesesternen.


Diesen Roman habe ich gestern auch zum Rezensieren zugeschickt bekommen. Nun freue ich mich noch mehr darauf.
 

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2. April 2017
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Das ist ein wunderbares Buch zum Entschleunigen und auf andere Gedanken kommen. Das Richtige in diesen Zeiten. Obwohl natürlich auch eine gewisse Schwere auf den Menschen liegt. Aber sie finden eben glaubwürdige Wege nach vorne. Wirklich empfehlenswert.
 
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