4. Leseabschnitt: S. 221 bis Ende

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Hmmm... Das Buch lässt mich doch etwas zwiegespalten zurück. Einem wichtigen Thema hat sich der Autor hier angenommen, und gut war, wie sich dieses erst nach und nach entpuppte. Aber insgesamt bin ich mit dem Roman nicht so ganz glücklich geworden. Da ist diese distanzierte Erzählweise - ja, auch wenn sie als passendes Silmittel gedacht war, kam ich den Figuren so nicht wirklich nahe, das Entsetzen über das Gelesene blieb doch recht oberflächlich.

Dann habe ich mich gefragt, wofür es den Alexander / Sascha oder wie auch immer überhaupt brauchte. Als Figur blieb er reichlich blass, sein privates Drama ging hier angesichts dessen, was eigentlich erzählt werden sollte, doch ziemlich unter. Es mag sein, dass der Autor verdeutlichen wollte, dass das schreckliche Schicksal eines Einzelnen nichts wiegt im Verhältnis zu den Massen, die unter Stalin der Willkür ausgesezt waren und leiden mussten. Es mag sein, dass Tatjana einfach einen Zuhörer der übernächsten Generation brauchte, damit ihre Geschichte nicht verloren geht - und dazu jemanden, der zumindest weiß, was Leid bedeutet. Aber das Größenverhältnis der beiden Hauptcharaktere hinkt doch gewaltig. Die Geschichen der beiden Nachbarn stehen auch vollkommen zusammenhanglos nebeneinander. Von Alexanders Seite kam nach einem kurzen Abriss über sein Schicksal gar nichts mehr - nur noch in Sachen Zukunft, möglicherweise, mit Lera.

Tatjana und Alzheimer. Hm. Auch für mich zeigten sich bei ihr keine ausreichend typtischen Symptome, das fand ich reichlich konstruiert. Überhaupt die Zeichnung der Figuren - das blieb alles sehr an der Oberfläche.

Mit der Art der Konzeption hatte ich auch so meine Schwierigkeiten. Die Chronologie der Ereignisse wird in kurzen oder manchmal auch etwas längeren Schlaglichtern sichtbar, herausgerissen aus dem Zeitgeschehen, kurz beleuchtet und wieder ins Dunkle gleitend. Das ist keine zusammenhängende Geschichte, sondern eine szenische Darstellung, die die Gesamtheit der erlebten Gräuel nur erahnen lässt. Die Handlungsstränge werden nicht verwoben, sondern stehen einfach neben- und hintereinander. Emotionen werden nicht wirklich transportiert, nur eine leise Gänsehaut schleicht sich dann und wann ein, weil man eine vage Vorstellung von dem bekommt, was da geschehen ist. Und die Vielzahl an eingefügten Original-Schriftstücken empfand ich doch als sehr störend. Einige Beispiele wären für mich ausreichend gewesen, um einen Eindruck zu erhalten, die Menge störte meinen Lesefluss doch empfindlich. Zu den Gedichten habe ich eher einen Zugang gefunden, aber auch sie standen oft zusammenhanglos eingefügt da.

Durch das angefügte Interview mit dem Autor habe ich verstanden, weshalb dieser Roman so wichtig ist - gegen das Vergessen. Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Ich finde aber doch, dass dem Roman die Arbeit des Autors als Journalist anzumerken ist - die Fakten stehen im Vordergrund, das Schicksal von Tatjana erläutert 'nur' die Auswirkungen dessen, was da an Politik zu Zeiten Stalins betrieben wurde. Und heute...

Die Wertlosigkeit eines einzelnen Menschenlebens - das ist in jedem Fall deutlich geworden.

Über die Rezension mache ich mir morgen Gedanken.
 

Wandablue

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Ich habe sie nur angefangen. Gedichte funktionieren bei mir einfach nicht. ... Aber ich habe es versucht :rolleyes:

Es kommt auf das Gedicht an, Renie. Wenn gewisse Worte gerade ein Gefühl treffen, das man selber hat, kann ein Gedicht eine Wucht sein. Aber das ist selten. Und diese Gedichte waren nur Durchschnitt (sorry, King) - ich hab sie auch nur überflogen.
 
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Es mag sein, dass Tatjana einfach einen Zuhörer der übernächsten Generation brauchte, damit ihre Geschichte nicht verloren geht - und dazu jemanden, der zumindest weiß, was Leid bedeutet.

Am ehesten. Der Autor brauchte einen Aufhänger. Ich mochte es, dass er so in der Gegenwart landete. Aber die Saschafigur war zu beladen. Er hätte einen ganz gewöhnlichen Menschen nehmen können als Aufhänger. Aber Autoren gehen sich auch manchmal selber auf den Leim.

Was die Distanz betrifft, gefiel mir gerade das. Einen empathischen Roman hätte man niemals auf so wenigen Seiten untergebracht. Und vllt kann man sich am ehesten auf so schlimme Dinge einlassen, wenn man nicht hunderte Taschentücher voll heulen muss.

Doc Schiwago geht anders - das stimmt. Aber hier haben wir eben Filipenko.
 
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Puh, ist das ein Ende! Die Diskrepanz zwischen Tanjas schlechtem Gewissen und diesem abgebrühten, verblendeten Charakter könnte nicht größer sein. Das muss man erst einmal verdauen.
Für mich ist es ein tolles und unerwartetes Ende, das in aller Deutlichkeit Schicksal und Zufall, menschliches Handeln und die Abscheulichkeit des Systems verknüpft.
 
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Diese zehn Seiten lange Aufzählung von Briefen und Dokumente fand ich auch störend. Es wiederholt sich viel und ist daher langatmig. Außerdem liest sich dieser Behördensprech nicht schön. Das hätte man gut zusammenfassen oder in einen Anhang packen können. Auf mich wirkt es fast so, als will der Autor mit seiner gründlichen Recherche angeben.
Ich fand das keinesfalls zuviel. Es ist nur ein klitzekleiner Auszug dessen, worum sich Humanisten gegenüber einem absolutistischem menschenverachtendem System bemüht haben, wie das Rote Kreuz immer mehr Zugeständnisse machte und am Ende sogar Gefangene gegen einfache Informationen anbot...ohne Reaktion. Alles unbeantwortet. Und ich bin mir sicher, dass das nicht nur für einige von uns neu ist.
Die Verknüpfung der Dokumentation der Recherche mit dem Roman finde ich sehr gelungen, keines kommt zu kurz oder ist zu breitgetreten in meinen Augen.
 
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Dass sich Tatjana solche großen Vorwürfe wegen Pawkow macht, kann ich nicht ganz nachvollziehen, zumal tatsächlich die ganze Zeit die Möglichkeit bestand, dass er nicht bestraft worden war - wie sich dann ja auch herausstellt.
Ich glaube, dass er stellvertretend dafür steht, dass auch sie ein Rädchen war, das half, das System aufrecht zu erhalten, für ihren Anteil an Schuld.
 
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Was die Distanz betrifft, gefiel mir gerade das. Einen empathischen Roman hätte man niemals auf so wenigen Seiten untergebracht. Und vllt kann man sich am ehesten auf so schlimme Dinge einlassen, wenn man nicht hunderte Taschentücher voll heulen muss.
Ich bin ganz bei dir. Gerade der Abstand hat mir gefallen, ich brauche für die Schrecken, über die ich lese, auch keine Großpackung Papiertaschentücher. Bei mir funktioniert die hier angewendete Knappheit und Klarheit viel besser.