Fazit

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.440
49.868
49
Die Tatsache, dass ich dieses Buch regelrecht verschlungen habe, zeigt an, dass es mir sehr gut gefallen hat. Die Handlung rund um Tatjana ist sehr fesselnd und eindrücklich beschrieben. Ich habe mein sparsames Wissen über Russland und den Stalinismus auffrischen können bzw. dazugelernt.

Ein bisschen schwächelt der Roman am Personal. Das Hinzufügen der vermeintlichen Alzheimer-Erkrankung ist meines Erachtens völlig überflüssig und auch unglaubwürdig. Tatjana erinnert sich an ihr Leben mit der Präzision eines Uhrwerks inklusive Daten und Fakten. Sie hat keine Aussetzer, erzählt ohne Punkt und Komma.

Dramaturgisch gewollt ist auch das schlimme Schicksal Alexanders, dessen an Krebs verstorbene Frau noch Wochen nach dem Hirntod ein Kind austrägt. Etwas weniger Drama hätte mir auch gereicht. Ähnliche Schicksale hin oder her. Der Roman hält sich in der Vergangenheit Tatjanas derart akribisch an real scheinende Verhältnisse, da wirkt mir das einfach etwas dick aufgetragen.

Ansonsten kann man das Handeln der Protagonistin zu Kriegszeiten sehr gut nachvollziehen. Allerdings musste ich Lera Recht geben: Das schlechte Gewissen wegen der Dopplung des Namens war völlig überzogen. Doch das war nötig, um dem Roman am Ende diese überraschende Wende zu geben. Insofern: Verziehen ;)

Ein spannender Schmöker mit wahrem Hintergrund. Ich denke, er wird von mir 4 gute Sterne bekommen. Nun wünsche ich mir noch etwas Diskussion in der Leserunde :D.
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.639
4.794
49
62
Essen
Mein Fazit zu dem Roman Auch ich habe ihn verschlungen. Ich sehe die Schwächen in der Konstruktion, die auch @Literaturhexle schon angesprochen hat. Es ist ein etwas bemühtes Buch „gegen das Vergessen einer verschwiegenen Vergangenheit“. Aber das sei dem Buch auch zu Gute zu halten: Es gibt aus leider „gutem“ Grund noch keine großen Vorbilder für Filipenko. Das Thema Verfolgung der eigenen Bevölkerung in der Sowjetunion ist immer noch literarisch unterbelichtet. Filipenko erzählt in dem im Buch abgedruckten Interview selbst, dass ihm im Heimatland der Zugang zu den Archiven und Dokumenten verwährt blieb. Erst in der Schweiz wurde er dann fündig. Die staatliche Verdrängung funktioniert also weiterhin. Die Abwehrhaltung in der Bevölkerung gegen diese Themen thematisiert Filipenko zudem im Roman selbst in der Figur des Stiefvaters etwa. Was Filipenko hier macht, ist ein Anschreiben gegen Widerstände, die nicht zu unterschätzen sind. Da sollten wir uns aus deutscher Sicht mit unserem wahren Schatz an Literatur „gegen das Vergessen“ vor Augen halten. Und deshalb: jedes Steinchen im unfertigen Mosaik ist wichtig und bedeutsam. Das zeigt auch das große Erstaunen bei vielen in der Leserunde über das lesend Erfahrene. Also Daumen hoch von mir für dieses Buch! Respekt für die Haltung, die dahinter steckt, den bewiesenen Mut und auch für das bei den Lesern geweckte und am Leben gehaltene Interesse.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.440
49.868
49
Das Thema Verfolgung der eigenen Bevölkerung in der Sowjetunion ist immer noch literarisch unterbelichtet. Filipenko erzählt in dem im Buch abgedruckten Interview selbst, dass ihm im Heimatland der Zugang zu den Archiven und Dokumenten verwährt blieb.
Genau das hat mich auch in Erstaunen versetzt: Zu Zeiten Jelzins waren die Archive offen, dann mit Putin wurden sie wieder geschlossen... Das lässt tief blicken. Der Autor lebt in St. Petersburg. Mich überrascht dann, dass er doch so offen seine Kritik und sein Schreiben gegen das vergessen anbringen darf.
Was Filipenko hier macht, ist ein Anschreiben gegen Widerstände, die nicht zu unterschätzen sind.
Genau das meinte ich.
Und deshalb: jedes Steinchen im unfertigen Mosaik ist wichtig und bedeutsam.
Genau! Es muss für die Betroffenen furchtbar sein, wenn das erlittene Unrecht noch nicht einmal gesellschaftlich anerkannt wird (siehe Stiefvater).

Ich schiebe jetzt ein weiteres Buch zu diesem Thema ein, das renee und Renie empfohlen haben:
Die Parallelen zeigen sich schon auf den ersten 100 Seiten. Daumen hoch!
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Genau das hat mich auch in Erstaunen versetzt: Zu Zeiten Jelzins waren die Archive offen, dann mit Putin wurden sie wieder geschlossen... Das lässt tief blicken. Der Autor lebt in St. Petersburg. Mich überrascht dann, dass er doch so offen seine Kritik und sein Schreiben gegen das vergessen anbringen darf.

Genau das meinte ich.

Genau! Es muss für die Betroffenen furchtbar sein, wenn das erlittene Unrecht noch nicht einmal gesellschaftlich anerkannt wird (siehe Stiefvater).

Ich schiebe jetzt ein weiteres Buch zu diesem Thema ein, das renee und Renie empfohlen haben:
Die Parallelen zeigen sich schon auf den ersten 100 Seiten. Daumen hoch!
Schön, dass dir anscheinend die Klara gefällt.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Dieses Buch hat mich abgeholt und angeknipst. Die Art der Schreibe hat mir gefallen und ich habe mich bestens unterhalten gefühlt. Deswegen von mir 5 Sterne! Love it!
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.890
12.574
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Das war ein Roman, der es mir unglaublich schwer gemacht hat, in der Leserunde mitzumachen. Es gibt Bücher, die will man ohne Pause verschlingen. Und dieses gehört für mich dazu. Mich hat jede Unterbrechung, um meine Eindrücke zu posten, gestört.
Dennoch wird es bei mir keine 5-Sterne-Wertung geben. Denn ich sehe auch ein paar Schwächen in diesem Roman.
In irgendeinem Leseabschnitt habe ich die Vielschichtigkeit dieses Roman angesprochen. Dieser Eindruck hat sich zum Ende hin revidiert. Tatsächlich geht es um "Wider das Vergessen des Stalinismus und seiner Opfer". Zwischenzeitlich kratzt der Autor jedoch noch andere Themen an. Das ist ein bisschen irreführend, zumal er diese Themen auch nicht weiterverfolgt. Nicht, dass ich irgendetwas vermisse. Denn das Thema "Stalinismus" birgt genug Potenzial für einen Roman. Aber dann darf der Autor auch keine Spur auf andere Themen auslegen, die er dann nicht weiterverfolgt. Vermutlich wollte er es besonders gut machen.

Der Charakter Tatjana schwächelt auch ein bisschen. Tatjana ist für sich gesehen, ein großartiger Charakter: eine reizende alte Dame mit einer unvorstellbaren Geschichte, die an Alzheimer leidet, aber dennoch alle durch ihre Agilität und geistigen Stärke verblüfft.
Das Thema "Alzheimer" will man ihr nicht so recht abnehmen. Dafür sind ihre Handlungen in der Gegenwart durch zu viele lichte Momente durchsetzt.

Ich stelle gerade fest, dass ich auf hohem Niveau jammere. Denn am Ende zählt, dass ich das Buch verschlungen habe. Und wenn man sucht, findet man immer das Haar in der Suppe;) Also, Schwamm drüber. Ich lasse es krachen: 5 Sterne
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.440
49.868
49
Mich hat jede Unterbrechung, um meine Eindrücke zu posten, gestört.
Hinzu kommt, dass man so viel gar nicht differenziert diskutieren kann. Es ist eher eine allgemeine Entsetzensbekundung, denn die Fakten liegen ziemlich klar auf dem Tisch.
Vermutlich wollte er es besonders gut machen.
Ein bisschen wie Schreibschule: gib dem Zuhörer auch noch ein packendes, zu Tränen rührendes Schicksal... da hat mir dann aber auch die Weiterführung gefehlt. Was zum Beispiel mit der Tochter bei den Großeltern passiert. Auch Lera als Liebesgeschichte wurde nur angetupft, um in ein Happy Hoffnungsende überzuleiten...

Und Alzheimer scheint sich gerade unglaublich gut zu verkaufen: steht auf dem Klappentext und könnte der Lektor eingefügt haben ;) Mit 91 Jahren sind wir doch alle ein bisschen Alzheimer, oder :p?
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.306
18.945
49
48
Ich habe das Buch nun auch mehr oder weniger in einem Rutsch gelesen, weil es mich förmlich an die Seiten "gefesselt" hat. 5*-Rezension folgt, auch wenn ich mir hier erst noch ein paar Gedanken machen muss.
Hinzu kommt, dass man so viel gar nicht differenziert diskutieren kann. Es ist eher eine allgemeine Entsetzensbekundung, denn die Fakten liegen ziemlich klar auf dem Tisch.
Sehe ich genauso. Man kann eigentlich nur mit vor Entsetzen geweiterten Augen weiter und immer weiter lesen, bis man feststellt, dass das Buch vorbei ist :D.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.602
21.862
49
Brandenburg
Ich habe das Buch nun auch mehr oder weniger in einem Rutsch gelesen, weil es mich förmlich an die Seiten "gefesselt" hat. 5*-Rezension folgt, auch wenn ich mir hier erst noch ein paar Gedanken machen muss.

Sehe ich genauso. Man kann eigentlich nur mit vor Entsetzen geweiterten Augen weiter und immer weiter lesen, bis man feststellt, dass das Buch vorbei ist :D.

Ich will ein Foto von den vor Entsetzen geweiteten Augen ;-)
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.602
21.862
49
Brandenburg
Und dann wäre da noch der Link zur Rezension.


Vielen Dank dafür, dass ich dabei sein durfte. So langsam finde ich ins hiesige Bücherparadies.
 
  • Like
Reaktionen: Renie