Rezension Rezension (5/5*) zu Der dunkle Garten: Roman von Tana French.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der dunkle Garten: Roman von Tana French
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Irgendwo zwischen den Genregrenzen

»In der besonderen Zone zwischen Spannung und Literatur, mit einer Sprache wie Satin, ein Glücksfall für den Leser.«
Stephen King über das Buch

Ich kann Mr. King hier nur Recht geben: die Sprache ist wieder ein Gedicht – dies war nicht mein erstes Buch von Tana French und wird sicher nicht mein letztes sein! –, die Autorin bewegt sich gekonnt zwischen den Genres und über deren Grenzen hinaus. Hatte ich anfangs noch das Gefühl, ein persönliches Drama zu lesen, dann die psychologische Studie einer Familie, wird die Geschichte zunehmend abgründiger und begibt sich mehr und mehr ins Gefilde der Spannungsliteratur. Aber die Einordnung in ein Genre spielte für mich ohnehin nur am Rande eine Rolle, denn so oder so hielt sie mich immer gefangen.

Allerdings war unser Krimilesekreis nicht meiner Meinung – mit einer Ausnahme.

Der Rest fand das Buch entschieden und eindeutig nicht gelungen, um es vorsichtig auszudrücken. Es fehle die Spannung, es würden zu viele Nebensächlichkeiten erzählt, zu viele Handlungsstränge aufgemacht, von den 653 Seiten habe man doch mindestens 300 streichen können. Autsch. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich – wie gegensätzlich! – verschiedene Leser das gleiche Buch wahrnehmen können, und ich schreibe diese Rezension unter Vorbehalt.

Wir sind alle Viel-Leserinnen in diesem Lesekreis, daher kann ich wirklich nicht behaupten, meine Meinung sei notwendigerweise der Weisheit letzter Schluss!

Aber meiner Meinung nach…
…ist das Buch originell und in sich schlüssig.

Mir gefielen gerade die ruhigen Passagen, die andere gerne gestrichen hätten und die sich Zeit lassen, um das Seelenleben des Protagonisten vor dem Leser auszubreiten. Denn Toby ist in einer wirklichen Ausnahmesituation: ihm wird von Einbrechern der Schädel eingeschlagen, er ringt eine Zeit lang auf der Intensivstation mit dem Tod und muss danach damit fertig werden, dass er nicht mehr derselbe ist – und es vielleicht nie mehr sein wird. Er hat Aussetzer, er kann seiner Wahrnehmung und seiner Erinnerung nicht mehr trauen, und er bemüht sich nach Kräften, dies vor anderen zu verbergen, was ihn viel Kraft kostet.

Ich liebe unzuverlässige Erzähler, und mit Toby hat Tana French ein wunderbares Beispiel dafür geschrieben.

Man weiß nie, was man ihm glauben kann – weil er es selbst nicht weiß. Was ist wirklich passiert, was bildet er sich ein? Was hat er vielleicht getan, an das er sich nicht mehr erinnert?

Und ja, es gibt viele Handlungsstränge und es fließt auch viel in die Handlung ein, was für den Kriminalfall der Geschichte keine Rolle spielt, aber das hat alles seinen Sinn und eröffnet neue Blickwinkel auf das Geschehen. Dinge, die auf Seite 23 nebenher erwähnt werden, können durchaus auf Seite 523 noch mal eine Rolle spielen.

Meiner Meinung nach…
…schreibt Tana French großartige Charaktere.

Sie werden vielschichtig und komplex geschildert, und die Autorin gesteht ihnen Stärken und Schwächen zu, die schon mal dem Bild widersprechen können, das sich der Leser bisher gemacht hat.

Mit Toby habe ich von Anfang an mitgefühlt und -gefiebert, obwohl ich mich schon schnell fragte, was er vielleicht Furchtbares getan hat, an das er sich nicht mehr erinnert. Und sein Handlungsbogen erweitert sich nach dem ersten Drittel des Buches deutlich: jetzt geht es nicht mehr „nur“ darum, wie er mit seinen gesundheitlichen Herausforderungen umgeht – er wird gebeten, sich um seinen sterbenden Onkel Hugo zu kümmern, weil er so gekonnt vor seiner Familie versteckt hat, wie schlecht es ihm selber immer noch geht.

Hugo und sein „Efeuhaus“ waren für den jugendlichen Toby, seine Nichte Susanna und seinen Neffen Leon eine Zuflucht, ein wahres Paradies, ein Ort, um in sicherer Umgebung über die Stränge zu schlagen. Daher kann man Tobys Schmerz gut nachvollziehen, als zunehmend offensichtlicher wird, dass Hugo nicht mehr lang zu leben hat, und auch Hugos Mut und Würde erwecken einen bittersüßen Widerhall.

Meiner Meinung nach…
…ist das Buch auch spannend, auf seine eigene Art.

Es ist in meinen Augen keine typische Krimi- oder Thrillerspannung, aber auf dem Cover steht ja auch „Roman“.

Die Spannung entfaltet sich langsam, oft unterschwellig, oft nur im leisen Unbehagen des Lesers. Vieles setzt sich erst im Rückblick zusammen, ist dann aber in sich schlüssig – und verändert den Sinn, wie man ihn bisher wahrgenommen hat.

In Gang kommt die Geschichte jedoch mit einem Schlag, recht spät im Buch, als Susannas Kinder im Garten, im Stamm eines alten Baums, eine grauenhafte Entdeckung machen… Toby gerät mehr und mehr in Verdacht, und er glaubt selber immer weniger an seine Unschuld.

Wenn man gerade denkt, jetzt hätte sich alles geklärt, kommt nochmal ein Nachspiel, eine unerwartete Wendung ganz am Schluss – und auch die überzeugte unseren Krimilesekreis nur bedingt. Ich bin selber nicht hunderprozentig sicher, ob ich diese Wendung noch gebraucht hätte, fand das Buch jedoch im Ganzen großartig.

Fazit:

Toby wurde von Einbrechern fast totgeschlagen und hat massive Einschränkungen zurückbehalten. Er hinkt, er zittert, er spricht undeutlich, aber viel schlimmer: seine Erinnerungen sind lückenhaft, er kann sich selber nicht mehr trauen. Als Kinder im Garten seines sterbenden Onkels eine furchtbare Entdeckung machen, fragt er sich daher, wie viel er vielleicht damit zu tun hat…

Dieses Buch hat unseren Krimilesekreis gespalten: zwei von uns fanden es phänomenal, der Rast fand es langweilig, langatmig und 300 Seiten zu lang.

Für mich ist dies ein Buch, das auch in den langsamen Passagen durch seine psychologische Tiefe und feine Charakterzeichung überzeugen kann. Nichts davon ist in meinen Augen überflüssig, man muss der Geschichte einfach Zeit und Raum geben. Spannend ist es meines Erachtens auch, nur ist es über lange Passagen eine unterschwellige Spannung.