Rezension (5/5*) zu Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft von Volker Weidermann.

Matzbach

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31. Januar 2020
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OWL
Tanz auf dem Vulkan

Sommer 1936. Während sich Nazideutschland anschickt, wegen der olympischen Spiele ein zivilisiertes Angesicht nach außen zu zeigen, treffen sich im belgischen Ostende versprengte Exilanten, die Deutschland verloren haben, allen voran Stefan Zweig und Joseph Roth. Die beiden befreundeten Autoren sind als Juden vom deutschen Buchmarkt verschwunden und kämpfen, unterschiedlich erfolgreich, um ihr wirtschaftliches Überleben. Zweigs gelegentliche Finanzspritzen helfen Roth dabei.

Gemeinsam mit anderen Feriengästen wie Ernst Toller, Arthur Koestler, Willi Münzenberg, Hermann Kesten, Egon Erich Kisch und der neu dazustoßenden Irmgard Keun feiern sie und schmieden Pläne, wie man Nazideutschland gegenüberzutreten habe. Phantasmagorien, wie man aus der Rückschau konstatieren muss. Dem Unhold Hitler und seinem System war kein (deutsches) Kraut gewachsen. Zweig zieht sich literarisch in eine Welt von gestern zurück, ähnlich Roth, der beginnt, dass zerfallende österreichische Kaiserreich und den Katholizismus zu glorifizieren, dabei zugleich noch stärker dem Alkohol verfällt, eine Leidenschaft, in die er seine neue Geliebte, Irmgard Keun hineinziehen wird.

Die von Volker Weidemann beschriebenen Treffen der Exilanten muten bisweilen wie ein Tanz auf dem Vulkan an, auch überschätzt man sich maßlos, wenn man glaubt, man könne mit der Betonung humanistischer Werte das Dritte Reich bekämpfen, dafür waren die dreißiger Jahre zu idelogiegläubig. Auch, aber nicht nur deshalb, fiel mir beim Lesen dieses kleinen, aber wertvollen Büchleins mehrfach das Zitat "Der Tod kreuzte schon seine knochigen Hände über den Kelchen, aus denen wir tranken" aus Joseph Roths "Radetzkymarsch" ein.

Joseph Roth und Stefan Zweig sind zwei meiner Lieblingsautoren, die deutsche Exilliteratur von 1933 - 1945 war ein Schwerpunkt meines Studiums, insofern konnte ich dieses Buch nicht nicht lesen. Und ich habe es auch nicht bereut. Wieder einmal wird deutlich, wie schwer der Verlust der Heimat und auch die Möglichkeit, in der eigenen Sprache die eigenen Landsleute anzusprechen auf die Betroffenen gewirkt hat. Entwurzelte, die selten neuen Fuß fassen konnten.