6. Leseabschnitt: Kapitel 6 (Seite 315 - 388)

Literaturhexle

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2. April 2017
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Zusammenfassung:
Während IE krank ist, hat die Mutter drei Anrufe erhalten. Schwager 3 fragt mehrfach, warum sie nicht zum Joggen käme. Das Gespräch erscheint fast witzig, ich frage mich, ob der Schwager der IE nicht ein verschlüsseltes Hilfs-/Gesprächsangebot machen will ("Sie weiß ja, wo sie mich findet").
Auch VF ruft an, wird von der Mutter aber irrtümlich für den Milchmann gehalten und muss wüste Beschimpfungen über sich ergehen lassen. In der Situation hat mir die Mutter gefallen: Ohne Rücksicht auf die wichtige Position des MM sagt sie ihm gehörig die Meinung, um ihre Tochter zu schützen.
Im dritten Anruf erhält die Mutter die Mitteilung, dass der echte MM niedergeschossen und ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Da offenbar auch sein Garten nach Beweismaterial umgegraben wird, kam mir gleich der Katzenkopf in den Sinn...
IE passt auf die munteren Schwestern auf und die Mutter eilt ans Krankenbett. Als sie zurückkommt, erzählt sie Vertrauliches aus ihrer Jugend. Echter Milchmann war ein wahrer Womanizer, alle Frauen aus dem Viertel hätten ihn gern gehabt, auch die Mutter selbst. Sein Herz gehörte aber Peggy, einer alten Freundin der Mutter. Diese brach dem echten MM das Herz, indem sie Nonne wurde und der Welt entsagte.
Daraufhin wollte der echte MM keine andere Frau mehr haben und bekam seinen Spitznamen "der, der niemanden liebt".
Ein erneuter kleiner Exkurs erläutert, welche Gründe es geben kann, den Falschen/die Falsche zu heiraten.

Nach diesem Ausflug sind wir wieder bei der IE und ihren Pommes. Sie sieht die Verwicklungen, die sich aus ihrer angeblichen Affäre mit dem MM ergeben. Die Gesellschaft macht sie u.a. zur Komplizin am Mord von Tablettenmädchen. Jetzt gehört sie zu denen, "die Sachen umsonst bekommen".... Sie schmeißt die Pommes auf die Straße, wo sie gierig von Hunden verschlungen werden. Sie begegnet der Schwester von Tablettenmädchen, die blind ist und ihr Strahlen verloren hat und der IE offensichtlich keine Vorwürfe macht. TMs Familie hat einen langen Brief der ermordeten Schwester gefunden, aus dem deren Ängste, ihre Bewusstseinsspaltung und Krankheit hervorgehen. Mit Vergiftungen wollte sie die Opfer offensichtlich bestrafen, läutern und im Extremfall verschwinden lassen. Der Brief wurde an eine unbekannte Freundin/Stimme im Kopf adressiert. (Was den Brief betrifft, würde ich mich über etwas nähere Aufklärung freuen @SuPro).
Schließlich kommt Bruder 3 hinzu, der Ex-Geliebte der Schwester von TM, der sie einst zu Gunsten der falschen Frau verließ. Bruder 3 zeigt sich höchst reuevoll. Auch dieses Liebesgeplänkel hat etwas von Slapstick und mündet in der Versöhnung der beiden. Er bringt sie gegen den Willen hinzugekommener Passanten ins Krankenhaus.

Endlich zu Hause wird IE von den Schwestern bestürmt, ein VF habe mehrfach angerufen. Als er sie schließlich erreicht, gestaltet sich das Gespräch schwierig. IE ist hin- und hergerissen zwischen Ausflüchten und dem Wunsch nach der Wahrheit, dem Wunsch nach mehr Nähe. Am Ende kommt es aber zum Streit und zu gegenseitigen Vorwürfen.

IE entschließt sich, VF persönlich aufzusuchen, um sich auszusprechen. Dort angekommen, findet sie die aufgebrochene Tür vor. Unbemerkt kann sie VF und Chefkoch in der Küche beobachten: VF wurde verletzt, offensichtlich hat Chefkoch die Eindringlinge mit dem Messer vertrieben. IE muss erfahren, dass beide Männer ein Liebesverhältnis haben und als Paar zusammenleben. Wie betäubt läuft sie weg. Auf dem Heimweg kommt MM im Lieferwagen vorbei. Sie steigt wie selbstverständlich ein. Gedanklich hat sie aufgegeben, sieht keine Alternative mehr, als sich zu beugen. MM fährt sie nach Hause und lädt sie für den kommenden Abend zum Rendevous ein.
 

Literaturhexle

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Mir gefällt, dass man immer mehr vom Innenleben der Erzählerin mitbekommt. Auch die Gedankenströme, die sie durchfluten, lesen sich interessant. Trotzdem hat sie sich in diesem Kapitel noch immer nicht entwickelt, wie ich am Ende des letzten hoffte. Sie macht alles mit sich alleine aus, sucht sich keine Hilfe.
MM wird immer gewalttätiger: erst der Mord an TM, dann der Überfall auf echter MM und VF.
Die Erzählerin ist wie gelähmt. Sie steigt in das Auto ein, übersteigt ihre selbst gesetzte Schwelle...
Ich hoffe, dass sie im letzten Abschnitt doch noch erwacht. Schließlich wissen wir, dass MM erschossen wird. Ich empfinde beim Lesen auch zunehmend Leichtigkeit. Manche Szenen haben wirklich etwas von einer Komödie.
Gespannt lese ich weiter.
 

kingofmusic

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Sehr schön wie hier verschiedene Themen/Motive betreffend verschiedener Personen (der "echte" Milchmann, Tablettenmädchen etc.) erläutert, erhellt werden. Bruder 3 ist ja sogar der Zwillingsbruder der Erzählerin; eigentlich haben Zwillinge doch immer (oder meistens) eine "festere" Bindung, was hier ja nicht gegeben ist.
Vielleicht-Freund wehrt sich (meines Erachtens nach) noch etwas gegen seine Homosexualität - auch hier sehr eindrückliche Beschreibung.
 

SuPro

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Trotzdem hat sie sich in diesem Kapitel noch immer nicht entwickelt,
... Ich finde, dass etwas in ihr in Bewegung gekommen ist. Als Entwicklung lässt sich das natürlich noch nicht beobachten und bezeichnen.
Besonders deutlich wird es, finde ich, nach dem missglückten Telefonat mit Vielleicht-Freund. Sie empfindet erstmals so etwas wie Spontanität und den Wunsch, Missverständnisse aufzuklären. Sie hat das Gefühl, dass Mut und Machtlosigkeit in den Hintergrund treten und sich stattdessen Energie in ihr breitmacht. Während bisher eher Melancholie, Depressivität, Vorsicht und Misstrauen die Priorität hatten, halten nun Vitalität und Risikobereitschaft Einzug (S. 372ff).
Diese Veränderungen in ihr bewirken, dass sie sich auf den Weg zu Vielleicht-Freund macht, wo sie allerdings für Ihren Mut nicht belohnt wird, sondern einen herben Rückschlag erfährt.
Und genau dieser Rückschlag führt zu erneuter Passivität, Gleichgültigkeit und Ohnmachtsgefühlen. Auch tritt erneut ihre pseudoneurologische Symptomatik auf: Sie spürt ihre Beine nicht mehr und meint, sie nicht mehr die Kontrolle zu haben.

Ich würde also sagen: eine deutliche Bewegung ist erkennbar, aber eine echte Entwicklungen wird im Keim erstickt.
 

SuPro

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Vielleicht-Freund wehrt sich (meines Erachtens nach) noch etwas gegen seine Homosexualität
... Ja, er scheint da noch in einem inneren Widerstreit zu sein. Vielleicht hat er es selbst noch nicht akzeptiert und kann sich deshalb auch noch nicht outen. Grund legen sich ja viele ein „Alibi“ (hier: Vielleicht-Freundin) zu. Dieser Widerstreit wird ja, wie du auch schreibst, wunderbar gezeigt, in dem Vielleicht-Freund immer wieder Chefkochs Hand wegschiebt und es am Ende doch zulässt…
 

kingofmusic

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... Ja, er scheint da noch in einem inneren Widerstreit zu sein. Vielleicht hat er es selbst noch nicht akzeptiert und kann sich deshalb auch noch nicht outen. Grund legen sich ja viele ein „Alibi“ (hier: Vielleicht-Freundin) zu. Dieser Widerstreit wird ja, wie du auch schreibst, wunderbar gezeigt, in dem Vielleicht-Freund immer wieder Chefkochs Hand wegschiebt und es am Ende doch zulässt…
Ich glaube, damals war es viel schwerer sich zu outen als heute. Wie gestern in "Bohemian Rhapsody" gesehen, hatte auch Freddy Mercury Schwierigkeiten, sich zu seinem Schwulsein zu bekennen...
 

Querleserin

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Ein erneuter kleiner Exkurs erläutert, welche Gründe es geben kann, den Falschen/die Falsche zu heiraten.
Eine Thematik, die mehrfach auftaucht. Man heiratet nicht den-bzw. diejenige, den/die man liebt, aus Angst davor, dieses Glück könne zerstört werden, und flüchtet sich in eine alternative Beziehung.
Drastischer kann man die Auswirkungen der gesellschafts-politischen Auswirkungen nicht beschreiben, die persönliches Glück unmöglich erscheinen lassen.
"Großes, dauerhaftes Glück war viel zu viel verlangt." (332)

Auch die Mutter, die mir zunehmend sympathischer wird, hat den "Falschen" geheirtatet. Ihr Herz gehört eigentlich dem echten Milchmann.
Dadurch wird der Titel des Romans doppeldeutig. Einerseits gibt es den Milchmann, den Paramilitär, der die Tochter bedroht, und den echten Milchmann, der vermeintlich niemanden liebt, aber gute Taten vollbringt und sich offen gegen die Vorherrschaft der Verweigerer stellt und in den die Mutter immer noch verliebt ist.

Sie macht alles mit sich alleine aus, sucht sich keine Hilfe.
Allerdings sucht sie spontan den VF auf, das ist eine Abweichung ihres bisherigen Verhaltens.

Besonders deutlich wird es, finde ich, nach dem missglückten Telefonat mit Vielleicht-Freund.
Genau so habe ich das auch gesehen, sie "rappelt" sich auf, will endlich dem VF die Wahrheit sagen und wird dann Zeuge einer Liebesbeziehung, die sie nicht geahnt hat. Sie fühlt sich zurückgewiesen, allein gelassen und aus diesem Gefühl heraus kapituliert sie vor der Übermacht des Milchmanns. Sie hat keine Kraft mehr.
"Mir blieb nichts anderes mehr übrig als einzusteigen, es hinter mich zu bringen." (386)
"Ich hatte einfach nicht das richtige Rüstzeug gehabt, um zu erkennen, was alle anderen von Anfang an gewusst hatten: Milchmann hatte mich die ganze Zeit in der Tasche gehabt." (357)
Glücklicherweise wissen wir, dass der Milchmann erschossen wird, nichtsdestotrotz vermittelt die Ich-Erzählerin, dass sie als Frau in einer solchen Gesellschaft, die von Terror und Gewalt beherrscht wird, keine Chance gehabt hat, egal, wie sie sich verhalten hätte. Welches Rüstzeug hätte es gebraucht, um dem entgegenzutreten?
Noch eine Bemerkung zur Sprache, die mir außerordentlich gut gefällt. Es gibt Redewendungen, die ich schon lange nicht mehr gelesen habe (@Mikka Liest: auch im englischen Originial?):
"Maulaffen feilhalten" (353).
Zudem ironisiert sie ihren eigenen Erzählstil, indem sie den Stil von "Einige Erwägungen zu den Ursachen der Größe der Römer und ihres Untergangs" beschreibt: "Ein simpler, aufeinander aufbauender Plan, keine Verschachtelungen, einfach in der Umsetzung" (359)...so sollten alle Bücher sein ;)
 

Literaturhexle

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Sie fühlt sich zurückgewiesen, allein gelassen und aus diesem Gefühl heraus kapituliert sie vor der Übermacht des Milchmanns. Sie hat keine Kraft mehr.
Eine Gefühlslage, die sehr gut beschrieben und sehr nachvollziehbar war. Das muss ja ein doppelter Schock gewesen sein: Sie schlägt alle Gefahren in den Wind, fährt zu ihm, will sich ihm erklären. Sieht die aufgebrochene Tür....
Und muss dann erkennen, dass auch VF alles andere als ehrlich zu ihr war. Da muss man sich ja am Boden fühlen. MM hatte an dieser Stelle leichtes Spiel!
 

MRO1975

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11. August 2018
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Diesen Abschnitt fand ich auch richtig spannend. Zuerst meinte ich, dass der Gordische Knoten mit VT endlich durchgeschlagen wird und die beiden miteinander reden und dann dieser Rückschlag! Dass sie dann in das Auto zu MM eingestiegen ist, war nur logisch. Ihr Schicksal war vorherbestimmt; andere Leute habe die Fäden über ihr Leben in der Hand. Da kann man ja nur depressiv werden. Bin gespannt, wie das ausgeht.
 

KrimiElse

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Ich empfinde beim Lesen auch zunehmend Leichtigkeit. Manche Szenen haben wirklich etwas von einer Komödie.
Gespannt lese ich weiter.

Für mich ist es ein erster Schritt zurück in die Normalität. Mit viel Gestolper, wie die Kuss-Szene zwischen Schwester von Tablettenmädchen und Bruder Drei zeigt. Krankenhäuser dürfen wieder aufgesucht werden - Bedenken werden weggewischt, von der Mutter, die zu echtem MM fährt, als auch von Bruder Drei.
Das dies zur Komödie gerät muss für mich so sein, denn die Menschen sind nur geübt darin, zu kämpfen und Widerstand zu leisten, aufmerksam in alle Richtung zu sein. Das Leben ist verschüttet und wird ausgegraben., ein bisschen hilflos zunächst.
 

KrimiElse

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Bruder 3 ist ja sogar der Zwillingsbruder der Erzählerin; eigentlich haben Zwillinge doch immer (oder meistens) eine "festere" Bindung, was hier ja nicht gegeben ist.
Das habe ich überlesen, glaube ich...abe4 dann wundert es mich, dass sie sie wenig miteinander zu tun haben. Oder das ist eben auch ein Ausdruck dafür, dass eigentlich kein Leben stattfand.
 
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.. Ich finde, dass etwas in ihr in Bewegung gekommen ist. Als Entwicklung lässt sich das natürlich noch nicht beobachten und bezeichnen.

Ja, genauso sehe ich das auch. Sie beginnt zu fühlen, aber noch nichts passiert bewusst.

Während bisher eher Melancholie, Depressivität, Vorsicht und Misstrauen die Priorität hatten, halten nun Vitalität und Risikobereitschaft Einzug (S. 372ff).

genau, das hast du wunderbar ausgedrückt. Genau das warmen Empfinden beim Lesen.


Und genau dieser Rückschlag führt zu erneuter Passivität, Gleichgültigkeit und Ohnmachtsgefühlen. Auch tritt erneut ihre pseudoneurologische Symptomatik auf: Sie spürt ihre Beine nicht mehr und meint, sie nicht mehr die Kontrolle zu haben.

Das ist so erstaunlich an der Geschichte. Viele andere können sich lösen, sie fällt erneut zurück in alte Schemen. Und am Ende tut sie das, was sie nie tun wollte.
 

KrimiElse

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Ich glaube, damals war es viel schwerer sich zu outen als heute. Wie gestern in "Bohemian Rhapsody" gesehen, hatte auch Freddy Mercury Schwierigkeiten, sich zu seinem Schwulsein zu bekennen...
Natürlich! Es war allgemein eben nicht bekannt, wie viele Künstler eigentlich schwul sind / waren. Ich kann mich erinnern, wie Freddy Mercury sein Statement abgab, und viele in meinem Freundeskreis reagierten äußerst ablehnend. Heute nicht mehr vorstellbar.
 

KrimiElse

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Man heiratet nicht den-bzw. diejenige, den/die man liebt, aus Angst davor, dieses Glück könne zerstört werden, und flüchtet sich in eine alternative Beziehung.

Auch die Mutter, die mir zunehmend sympathischer wird, hat den "Falschen" geheirtatet.

Das ist für mich nicht nur ein Nebeneffekt des Buches, sondern zeigt wie verquer die Realität ist. Glück darf nicht sein, denn Bomben können es mit einem Lidschlag zerstören. Also gar nicht erst versuchen...
 

KrimiElse

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Zudem ironisiert sie ihren eigenen Erzählstil, indem sie den Stil von "Einige Erwägungen zu den Ursachen der Größe der Römer und ihres Untergangs" beschreibt: "Ein simpler, aufeinander aufbauender Plan, keine Verschachtelungen, einfach in der Umsetzung" (359)...so sollten alle Bücher sein ;)
Oh, danke für diese Erhellung!
 
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