1. Leseabschnitt: Kapitel 1 und 2 (vom Beginn bis S. 90)

ulrikerabe

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14. August 2017
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Aber auch Gefühle werden nicht benannt. Es gibt (noch) keine Worte für Angst, Scham oder für eine "unerwünschte Annäherung". Hier glaube ich, dass dies allgemein typisch für die Vergangenheit war, also nicht nur in Irland. Die Protagonistin bezieht sich immer mal wieder auf ihre Zukunft in dem Sinne, dass sie später Worte wie Messi oder Depression hatte, die sie früher nicht hatte.

Das habe ich mir auch herausgestrichen. Ich habe da persönlich entsprechender Erinnerungan an Ereignisse, deren Gewicht ich heute ganz anders deute, als ich damals je auf die Idee gekommen wäre.
 

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Vielen Dank für diesen Hinweis! Ich dachte auch, dass crombie nicht nur ein Name sein kann.

Wenn das tatsächlich so gedacht ist, wie ich den Ausdruck kenne, dann ist das kurz für die Marke Abercrombie & Fitch. Die ist auch außerhalb Irlands sehr beliebt, und sie war auch bei manchen amerikanischen Präsidenten Teil der Garderobe.
 

Mikka Liest

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Hilter am Teutoburger Wald
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Toll, dass du auch mitliest! Und Hut ab, dass du das im Original tust. Dieser Text wäre ganz klar zu hoch für mich. Da muss man schon in der Muttersprache sorgfältig lesen.

Ich habe mir das eBook im März 2019 gekauft und dachte, diese Leserunde ist doch mal ein Anlass, es tatsächlich zu lesen...
 

SuPro

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28. Oktober 2019
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Man glaubt ja meist, wenn zwei sich lieben, dann wollen sie auch zusammenleben und sich ganz offiziell binden. Aber für diese beiden funktioniert das einfach nicht, und ich spüre oft, dass dieses "Vielleicht" die Beziehung in meinem Kopf als weniger innig erscheinen lässt, als sie sicher ist.
... Solche Vielleicht-Beziehungen gibt es leider viel häufiger, als man erst mal so vermutet.
Häufig sind es „ideale“ Beziehungen für Menschen, die einen Nähe – Distanz Konflikt haben. Wenn beide den gleichen Konflikt haben, dann können Sie durch so eine Beziehung ihre Nähe- und Distanzwünsche ideal regeln und ihre Angst vor Verbindlichkeit beiseite schieben. Gelöst und überwunden ist dadurch natürlich überhaupt nichts. Und letztlich führt es dann doch irgendwann zu Leid. Vor allem dann, wenn einer der Partner diesen Konflikt hat, der andere sich aber eine „ganz normale“ Beziehung wünscht.
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Ich habe den ersten Leseabschnitt beendet bin bisher sehr begeistert von dem Buch. Es ist eine ungewöhnliche Art des Erzählens, atemlos und sprunghaft, ständig ganz vorn im Kopf und angeknipst - passend zu Situation in Nordirland in den 1970er Jahren, die genau das erforderte, wenn man in (wahrscheinlich) Belfast lebte. Mich erinnert das an den Schauspieler Joe Pesci, der in vielen Filmen ständig völlig überdreht und aufgekratzt wirkte.
Das krasse Gegenteil dazu ist für mich das Lesen im Gehen, die Umgebung vergessend und ignorierend. Eine Schutzhaltung? Ebenso dass es eben nur Romane aus dem 19. Jahrhundert sind entschleunigt das Geschehen / das aufregende Leben in ständiger Bedrohung.

Für mich wurden gleich zu Beginn des Romans Bilder aus den Nachrichten lebendig. Ich kann mich aus Kindertagen noch erinnern, dass in den 1970er Jahren Bombenattentate, Straßenschlachten, Armee-Einsätze im Nordirlandkonflikt an der Tagesordnung waren. Unvorstellbar für mich heute, so zu leben. Es ist faszinierend, wie die Autorin das nicht als beherrschendes Thema wählt sondern als bedrohliches ständig vorhandenes Hintergrundrauschen im Alltag wirken läßt. Es spielten hier jedoch nicht nur die Kampfhandlungen und die politische Gesinnung selbst eine Rolle, sondern auch die Rolle Mann/Frau, die von unvorstellbar strengen Reglementierungen der katholischen Kirche und von für mich absolut mittelalterlichen irischen Traditionen beherrscht werden. Und trotz der Schwere genau dieser Thematik steckt viel Leichtigkeit darin, wie die Erzählerin damit umgeht. Zum einen fast mit einem zwinkernden Auge, dass man beim Lesen ganz klar die Dämlichkeit vieler den Männern und den Staatsverweigerern so wichtiger Dinge spürt. Zum anderen liest man auch Resignation, dass es in vielen Situationen komplett sinnfrei ist, etwas zu unternehmen, weil dann eine unglaubliche Kette an Ereignissen in Gang gesetzt werden würde.
Und ich lese Trauer darüber dass es eben so ist wie es ist, die aber der Resignation und der Anpassung zum Überleben weichen musste.

Was die Namenlosigkeit angeht? Menschen sind weniger wert als der Konflikt, Symbole (z.B.Flaggen) sind wichtiger als alles andere, absolut jedes Denken und Handeln scheint im Hinblick auf die Gesinnung beurteilt und verurteilt zu werden. Das Leben kann schneller vorbei sein als ein Augenaufschlag, auch zufallsbedingt, wenn man neben einer explodierenden Bombe steht. Nur große Berühmtheiten sind Persönlichkeiten und Individuen, alle anderen sind Freunde oder Feinde - mehr nicht. Da gibt es keine Namen. Und ich finde auch das sehr passend.

so, jetzt lese ich mich durch eure Beiträge.
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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"Atomjunge war zufällig der kleine Bruder von Irgendwer McIrgendwas" (S. 82). Ihr erinnert euch? Letzterer kam im allerersten Satz schon vor.
Ja, das ist mir auch sofort ins Auge gestochen. Aber noch ist für mich unklar,ob es wirklich einen Zusammenhang gibt. Mal sehen...
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Während des Disputs mit ihrer Mutter erinnert sich die Erzählerin an ihren Vater, der auf dem Sterbebett in vermeintlich wirrem Kopf davon redete, einst von einem "Crombie" mehrfach vergewaltigt worden zu sein. Tragisch, es hört sich an wie ein Trauma, das auch seine Ehe und sein Familienleben beeinträchtigte. Gewiss hören wir darüber noch mehr. Die Erzählerin findet es völlig unsinnig, dass die Mutter mit diesem Vater droht. Offensichtlich war er kein harter Mann.
Wenn ihm das als Junge passierte (mit Crombie ist doch einer von der anderen Seite der See gemeint, wie ich annehme) zeigt die Autorin in diesem winzigen Abschnitt, wie lange der Konflikt bereits im Gange war. Seit der Entstehung des Vereinigten Königreichs und der Auflösung des Irischen Parlaments (naja - eigentlich schon Jahrhunderte davor) gibt es das Theater zwischen Katholiken und Protestanten, weil die Katholiken nicht mit den Protestanten gleichgestellt wurden. Denn der König ist zugleich Oberhaupt der anglikanischen Kirche.
...was für eine Verschwendung und Dummheit.
 

KrimiElse

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Anfangs habe ich es ein paarmal mit Namen versucht, aber die Erzählung wurde dadurch schwer und leblos. Deshalb habe ich sie wieder herausgenommen.“
Ich finde schon, dass der Text durch die fehlenden Namen etwas Leichtes bekommt. Aber nicht nur dadurch, auch das Sprunghafte beflügelt die doch sehr tragische Geschichte beim Lesen...
Deine Erklärung zu den fehlenden Namen ist übrigens großartig.
 

KrimiElse

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sondern weil man aufgrund von jeglicher Normabweichung, wofür das Lesen im Gehen hier steht, abgestempelt, geächtet, bestraft, ausgeschlossen bzw. als „übergeschnappt“ verurteilt werden kann.
Das finde ich auch bezeichnend für die Geschichte, wie eng der Rahmen gesteckt ist, auch wenn das Handeln überhaupt nichts mit dem Konflikt selbst und dem Standpunkt dazu zu tun hat.
 

KrimiElse

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Diese Namenlosigkeit ist für mich im Grunde nur die Spitze des Eisbergs in Bezug auf die Art und Weise, wie hier erzählt wird. Es ist atmosphärisch ungemein dicht und stimmig. Die Autorin schafft eine entfremdete Umwelt, in der die Menschen sich auf einer Art ständigem Eiertanz befinden. Ständig in Gefahr anzuecken und sich auszugrenzen (es ist eine "permanent alarmbereite Gesellschaft" (S. 13), eine "psychopolitische Atmosphäre" (S. 36) und die Namenlosigkeit ist verstärkender, unterstützender Teil dieser geschaffenen Atmosphäre der psychotischen Entfremdung.
Bravo, genial beschrieben, danke dafür!
 

KrimiElse

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KrimiElse

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Ich habe die Geschichte tatsächlich lange nicht "verorten" können und habe schon erwogen, ob es vielleicht gar kein realer Ort ist, sondern ein fiktiver Ort, in dem reale Konflikte quasi versammelt sind. Aber wenn man erstmal auf Nordirland gekommen ist, macht es absolut Sinn.
Ich denke es liegt am Alter...aber für mich war ganz schnell klar, dass Nordirland gemeint ist. Das alltägliche Leben unterbrochen von Autobomben in Abschnitt 1, unsere und deren Seite der Straße und viele andere Details wiesen mich darauf hin. Naja, und nicht zuletzt, dass die Autorin aus Nordirland stammt - das weiß ich seit letztem Jahr, seit sie den Booker Prize gewann.
 

KrimiElse

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Die Frauen werden von ihrer eigenen Gruppe unterdrückt. Sie sind nicht einmal so wichtig, dass es verbotene Mädchennamen gäbe.
Das ist tatsächlich krass, aber es war so. Ich habe vor einiger Zeit ein Buch über eine Irische Familiengeschichte / Auswanderergeschichte gelesen, da wurde vieles so deutlich aufgerollt und benannt, dass es mir fast die Schuhe auszog. Man hat ja manchmal verträumte Ansichten von Irland als dem ursprünglichen schönen Zauberland...ich auch. Aber so ist es nicht und war es wohl auch nie.

das war übrigens ein Lesehighlight für mich:
Buchinformationen und Rezensionen zu All die Jahre: Roman von J. Courtney Sullivan
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KrimiElse

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Die Situation mit dem Milchmann ist wirklich bedrohlich. Die Protagonistin vermutet, dass er ein staatfeindlicher Verweigerer ist (ich denke eine Bezeichung für einen Widerstandskämpfer, der zu massiver Gewalt bereit ist).
Er wird ein IRA-Mann sein, vermute ich. Und alle wissen es, fürchten ihn und helfen ihm gleichzeitig.
 

KrimiElse

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Wenn das tatsächlich so gedacht ist, wie ich den Ausdruck kenne, dann ist das kurz für die Marke Abercrombie & Fitch. Die ist auch außerhalb Irlands sehr beliebt, und sie war auch bei manchen amerikanischen Präsidenten Teil der Garderobe.
Oh, auch eine Möglichkeit. Ich hatte es als klassischen Britischen Mantel gesehen, von der Fa J&J Crombie, eine der ältesten Britischen Marken.
 
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Literaturhexle

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Das krasse Gegenteil dazu ist für mich das Lesen im Gehen, die Umgebung vergessend und ignorierend. Eine Schutzhaltung? Ebenso dass es eben nur Romane aus dem 19. Jahrhundert sind entschleunigt das Geschehen / das aufregende Leben in ständiger Bedrohung.
Das hast du sehr gut eingefangen, schon zu Beginn. Die Erzählerin will abtauchen in anderen Welten - was für Außenstehende natürlich sehr befremdlich wirken muss (das merken wir selbst ja Schön, wenn wir uns outen, gerne Klassiker zu lesen :confused:)
dass in den 1970er Jahren Bombenattentate, Straßenschlachten, Armee-Einsätze im Nordirlandkonflikt an der Tagesordnung waren.
Ja. In diese Situation muss man sich rein versetzen. Ich habe da keine bewusste Erinnerung dran (aber ich war ja auch jünger:p).
Es ist faszinierend, wie die Autorin das nicht als beherrschendes Thema wählt sondern als bedrohliches ständig vorhandenes Hintergrundrauschen im Alltag wirken läßt.
Genau! Toll gemacht.
Zum anderen liest man auch Resignation, dass es in vielen Situationen komplett sinnfrei ist, etwas zu unternehmen, weil dann eine unglaubliche Kette an Ereignissen in Gang gesetzt werden würde.
Im Grunde will die Erzählerin doch nur in Ruhe gelassen werden. Sie hat keine politischen Ambitionen, möchte einfach nur nicht auffallen, ihr Leben genießen .
Das Interesse des MM macht dieses gestrickte Netz zunichte. Da kann man schon ganz schön ratlos werden.
 

Literaturhexle

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Ich denke es liegt am Alter...aber für mich war ganz schnell klar, dass Nordirland gemeint ist. Das alltägliche Leben unterbrochen von Autobomben in Abschnitt 1, unsere und deren Seite der Straße und viele andere Details wiesen mich darauf hin. Naja, und nicht zuletzt, dass die Autorin aus Nordirland stammt - das weiß ich seit letztem Jahr, seit sie den Booker Prize gewann.
Vielleicht wurde in der damaligen DDR auch intensiver darüber berichtet? Wäre ja möglich. Ich habe zwar auch vom Konflikt gehört, aber Nachrichten waren in dem Alter noch nicht so interessant.
 

Literaturhexle

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Oh, auch eine Möglichkeit. Ich hatte es als klassischen Britischen Mantel gesehen, von der Fa J&J Crombie, eine der ältesten Britischen Marken.
Gefühlsmäßig halte ich die Crombie-variante für wahrscheinlicher. Wer agiert in einem solchen Zusammenhang mit Abkürzungen? Andererseits wäre es zu Stereotyp, dass die Vergewaltigungen von einem "von drüben" verübt wurden. Es könnte einer der eigenen Leute scheinheilig gewesen sein. Das spricht für das irische Fabrikat. Prima, dass ihr die beiden Varianten herausgearbeitet habt. Wir werden es hoffentlich erfahren!
 
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