Rezension Rezension (5/5*) zu Der Archivar der Welt Roman von Lia Tilon.

Renie

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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Archivar der Welt Roman von Lia Tilon
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Über einen Menschenfreund

Albert Kahn hat zu Lebzeiten seine Brötchen als erfolgreicher Bankier verdient. Bankier war nicht sein Traumberuf sondern eher Mittel zum Zweck. Denn dank der finanziellen Grundlage, die ihm sein Beruf ermöglichte, war er in der Lage seiner eigentlichen Berufung nachzugehen: Kahn war ein Menschenfreund und vertrat folgende einfache Philosophie: "Wenn man sich ein Bild von den Fremden macht, hören sie auf, fremd zu sein." Banal gesagt: man ist erst in der Lage, Menschen fremder Kulturen zu verstehen, wenn man diese besucht hat. Und für denjenigen Teil seiner Landsleute, der nicht in der Lage war, fremde Länder und Kulturen zu bereisen, brachte er diese Kulturen in Form von abertausenden Fotografien und Reiseberichten von seinen eigenen Reisen durch die Welt nach Frankreich.

In dem Roman "Der Archivar der Welt" der niederländischen Autorin Lia Tilon geht es um ebendiese Lebensaufgabe von Albert Kahn.

In diesem Buch spielt Albert Kahn jedoch scheinbar nur eine Nebenrolle. Protagonist ist Alfred Dutertre, der in jungen Jahren eine Anstellung als Chauffeur bei Kahn fand und diesen über viele Jahrzehnte bis zu dessen Tod begleitete. Dabei hat er ihn nicht nur chauffiert sondern hat auch die, für Kahn viel wichtigere Funktion des Fotografen übernommen, wovon er anfangs überhaupt keine Ahnung hatte. Kahn sorgte dafür, dass sich Dutertre die notwendigen fotografischen Fähigkeiten aneignete und diese mit der Zeit verbesserte.

Zu Beginn ihres Arbeitsverhältnisses war Dutertre sehr unsicher in seiner Rolle als Angestellter. Er hatte Angst, dass er es seinem Chef nicht Recht machen konnte. Mit den Jahren schien er jedoch mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, zumindest scheute er sich nicht, Kahn die Stirn zu bieten oder ihn in seine Grenzen zu weisen, wenn dies nötig war.

Der Roman von Lia Tilon setzt unmittelbar vor Beginn des zweiten Weltkrieges ein. Zu diesem Zeitpunkt ist Kahn bereits Ende 70. Er ist krank und gebrechlich. Dutertre, der Kahn zu diesem Zeitpunkt seit 34 Jahren ein treuer Wegbegleiter war, kümmert sich rührend um ihn. Und hier wird deutlich, dass Dutertre für Kahn mehr als ein chauffierender Fotograf war und ist. Aus dem Angestelltenverhältnis hat sich eine lebenslange Freundschaft entwickelt, auch, wenn Dutertre diese nicht als solche bezeichnen würde. Dafür ist sein Respekt vor dem Menschenfreund Kahn zu groß.

Dutertre erzählt in "Der Archivar der Welt" von seiner Zeit mit Kahn. In einem Wechsel aus seinen Tagebuchaufzeichnungen über seine Reisen sowie Erinnerungen beschreibt Dutertre das Leben eines außergewöhnlichen Mannes und dessen Philosophie. Dabei findet die Handlung immer wieder zum anfänglichen Ausgangspunkt dieses Romans zurück.

Kahn stirbt am 14. November 1940 im Alter von 80 Jahren. Sein Vermächtnis findet sich heute im Musée Albert-Kahn in Paris, in dem Foto- und Filmmaterial von Kahns und Dutertres Reisen sowie anderer Fotografen, die in Kahns Dienst standen, ausgestellt werden.

Die Fotografie steckte in der damaligen Zeit noch in den Kinderschuhen. Fotografie war ein Kunsthandwerk. Der Aufwand, ein Foto zu bekommen war enorm, ganz zu schweigen von der Materialschlacht, die ein Fotograf in Kauf nehmen musste. Da nur wenige Fotomotive den Weg in ein Fotostudio fanden, musste der Fotograf mit seiner Ausrüstung zum Motiv. Das war immer beschwerlich, noch beschwerlicher war es, wenn man für seine Motive um die Welt reisen musste.

Albert Kahn hat also mit seinem fotografierenden Chauffeur die Welt bereist. Das Ergebnis waren zig Tausende von Fotografien, die in Kahns damaligem Anwesen gelagert wurden.

Schließlich ist die Idee entstanden, dem Rest der Welt die Reiseerlebnisse und Fotografien nicht vorzuenthalten. In Kahns "Les Archives de la Planète" (die Archive des Planeten) wurden diese anderen Menschen zur Verfügung gestellt.

Kahn träumte von einer besseren Welt, in der die Menschen friedlich nebeneinander leben, ungeachtet der Kultur aus der sie kommen. Diesem Anspruch hat er sein Leben gewidmet. Er mag vielen in erster Linie als einer der reichsten Männer seiner Zeit bekannt sein. Doch viel wichtiger ist sein einfacher philosophischer Ansatz, der gerade in der heutigen Zeit aktueller denn je ist.
Lia Tilon lenkt mit ihrem Roman von dem Finanzier Kahn ab und legt den Fokus auf den Menschenfreund Kahn. Indem sie dies aus der Sicht des Chauffeurs Dutertre macht, hebt sie Kahn von dem Podest des mächtigen Finanzmoguls herunter. Übrig bleibt ein verletzlicher Mensch, der sich der Erfüllung seines Traums einer friedlichen Welt gewidmet hat. Beeindruckend.

Leseempfehlung!

© Renie

 

Literaturhexle

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Ja, liebe @KrimiElse : Dasselbe dachte ich auch schon. Trotzdem weiß Ich, dass ich mich mit "Reisegeschichten" und Biografien schwer tue. Und irgendwie liegt dieses Buch doch dazwischen...
 

KrimiElse

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Ja, liebe @KrimiElse : Dasselbe dachte ich auch schon. Trotzdem weiß Ich, dass ich mich mit "Reisegeschichten" und Biografien schwer tue. Und irgendwie liegt dieses Buch doch dazwischen...
Ich denke, dass es mein Fall ist, denn reine Reiseberichte und Biografien mag ich nicht, wenn ein wenig romanhaftes Abenteuer mitschwingt hingegen bin ich hingerissen. Ich werde berichten...
Danke auf jeden Fall liebe @Renie dass du diesen Buch für uns entdeckt und organisiert hast.
 
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