Rezension Rezension (3/5*) zu Die Kakerlake von Ian McEwan.

Renie

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19. Mai 2014
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Premierminister kann jeder

Da war aber jemand mächtig sauer und hat seinen Unmut mit dem kundgetan, was er am besten kann: Schreiben.
Die Rede ist von Ian McEwan, der in seinem aktuellen Buch "Die Kakerlake", die britische Regierung zerpflückt. Natürlich sind Ähnlichkeiten mit aktuellen Ereignissen oder Politikern rein zufällig.

Wie der Titel schon sagt, geht es um die Kakerlake. Quasi über Nacht wird die Kakerlake zum Menschen, besser gesagt zum Politiker, noch besser gesagt zum englischen Premierminister. Hier trägt er den klangvollen Namen Jim Sams. (Ähnlichkeiten mit dem Charakter Gregor Sams aus Franz Kafkas Werk "Die Verwandlung" sind hier weniger zufällig als eher beabsichtigt.)
Und Jim macht einen Tag lang Politik in der Downing Street No. 10 bzw. in Westminster. Dabei schlägt er sich bravourös und skrupellos mit politischen Gegnern rum, setzt im Hauruckverfahren seinen umstrittenen und fragwürdigen politischen Ansichten um. Dabei verfolgt er eine Wirtschaftspolitik, die fernab von jeder Logik und Vernunft ist. Und zu guter letzt streckt er noch seine Fühler Richtung Übersee aus, wo er in Amerika einen gleichgesinnten, ähnlich gestrickten Politikerfreund findet, der sich ebenfalls nicht um Sinn und Verstand bei seinen politischen Entscheidungen schert.
Die "Kakerlake" macht auf mich den Eindruck eines McEwanschen Schnellschusses. Der Mann ist frustriert über die britische Politik und den Brexit im Besonderen. Daher hat er mal eben seinem Zorn Luft gemacht und sich den Frust von der Schriftstellerseele geschrieben. Das Ergebnis ist eine verbale Explosion in Form einer deftigen Politsatire, die den Leser zunächst umhaut. Doch nachdem dieser wieder auf die Füße gekommen ist und sich fragt, was das jetzt gewesen ist, was ihn von den Füßen geholt hat, ist sie auch schon wieder verpufft.
Damit will ich sagen: Aufgrund des aktuellen Bezugs hat man einen Mordsspaß durch McEwans beißenden Humor. Doch ich frage mich, ob dieser Mordsspaß auf Dauer, also ohne diesen aktuellen Bezug, Bestand haben wird. Denn irgendwann werden die Briten ihr Brexit-Problem gelöst haben - wie und wann auch immer. Und ich befürchte, dass "Die Kakerlake" dann irgendwann nur noch eine von vielen Politsatiren sein wird, die in der Versenkung verschwindet, weil andere Ereignisse das politische Tagesschehen bestimmen und somit interessanter sein werden.
Hinzu kommt, dass die "Die Kakerlake" vom Sprachniveau her nicht an die bisherigen Romane von Ian McEwan heranreicht. Die Sprachbrillanz, die man von McEwan gewohnt ist und daher auch erwartet, wird man hier nicht finden.

Mein Fazit:
Ian McEwan hat ein Problem mit der englischen (Europa-)Politik. Diese Einstellung bringt er in "Die Kakerlake" in einer sehr unterhaltsamen und originellen Weise rüber. Aber auch nicht mehr. Reicht ja auch. Da die Welt tagtäglich mit dem Brexit-Kasperletheater konfrontiert wird, hätte ich ehrlich gesagt auch gar keine Lust gehabt, mich intensiv literarisch damit zu beschäftigen. McEwan hat also mal eben in 160 Seiten seinen Standpunkt deutlich gemacht. Nicht mehr und nicht weniger.

© Renie