Rezension Rezension (5/5*) zu Middlemarch: Eine Studie über das Leben in der Provinz Roman von George Eliot.

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Middlemarch von George Eliot
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Ein großes Stück Englische Literatur

Anlässlich des 200. Geburtstages der Autorin George Eliot, die unter männlichem Pseudonym schrieb, gab der dtv - Verlag diese prächtige, neu bearbeitete Neuauflage des Klassikers heraus. Das Buch ist eine Pracht: Nicht nur der Schutzumschlag ist hochwertig mit fantastischen Blumenmustern gestaltet, sondern auch der feste Einband. Dem Roman sind ein Vorwort von Elisabeth Bronfen voran- und ein Nachwort von Rainer Zerbst hintangestellt. Beide Texte betten den Klassiker wunderbar in seinen historischen Kontext ein und weisen auf literarische Besonderheiten hin. Nicht umsonst wurde „Middlemarch“ im Jahr 2015 zum bedeutendsten englischen Roman gewählt.

Die Handlung ist in einer fiktiven, aber typischen, englischen Kleinstadt um 1830 angesiedelt. Im Mittelpunkt steht Dorothea Brooke, die seit dem Tod der Eltern gemeinsam mit ihrer Schwester Celia auf dem Gut ihres Onkels Arthur lebt. Dorothea möchte ihr Leben sinnvoll verbringen, es nicht mit Vergnügen, Trödel und Tand vergeuden. In diesem altruistischen Bestreben setzt sie sich völlig vom idealen viktorianischen Frauenbild ab, dem Celia viel eher zu entsprechen scheint. Als Dorothea den ältlichen Geistlichen Edward Casaubon kennenlernt, wächst in ihr die Hoffnung, der vorbestimmten Enge entkommen zu können. Sie sieht in Casaubon einen zutiefst gebildeten Mann, der seit Jahren an einem großen Werk über Religionsgeschichte arbeitet, das ihm einst großen Ruhm einbringen wird, und träumt „von einer tiefen Gemeinsamkeit auf geistigem Gebiet“. Sowohl ihre Schwester und ihr Onkel als auch der Nachbar Sir James Chettam (der ebenfalls Interesse an einer Verbindung mit Dorothea hat) raten ihr davon ab, den deutlich älteren Mann zu heiraten. Ebenso sät der auktoriale Erzähler immer wieder Zweifel am Bräutigam. Dorothea lässt sich aber nicht beirren und geht die Ehe ein.

Der Roman wird von weiteren interessanten Frauenfiguren bevölkert: Dorotheas Schwester Celia wirkt weit angepasster und wird einen vermögenden, „normalen“ Ehemann wählen, der sie versorgen und ihr die Annehmlichkeiten der Zeit ermöglichen kann. Celia hat keine Schwierigkeiten, sich dem geltenden Patriarchat zu beugen und den Mann als Denker und Entscheider anzuerkennen. Dennoch wird auch sie ihre Interessen durchzusetzen wissen.

Rosamond Vincy ist ein verwöhntes 17-jähriges Mädchen aus reicher Fabrikantenfamilie. Sie ist bildhübsch und die Männer liegen ihr zu Füßen. Sie selbst wiederum träumt davon, Middlemarch zu verlassen und setzt sich in den Kopf, sich mit einem Zugereisten zu verbinden. In der Wahl ihrer Mittel geht sie sehr narzisstisch und wenig zimperlich mit ihrem Umfeld vor.

Das krasse Gegenstück zu Rosamond ist deren Jugendfreundin Mary Garth. Sie hat das Herz am rechten Fleck, gesunden Menschenverstand, sie muss sich fleißig ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und entstammt einfachen, aber angesehenen Verhältnissen. Selbstverständlich hat sie auch einen Verehrer. Jener muss sich aber noch ordentlich bemühen, um auch ihre Aufmerksamkeit zu erlangen…

Über das damals vorherrschende Gesellschaftsbild gibt es keinen Zweifel, nicht umsonst wird der Roman auch „Eine Studie über das Leben in der Provinz“ genannt. Um die genannten vier Frauen ranken sich natürlich noch zahlreiche weitere Figuren. Neben den bereits genannten Ehegatten ist hier der Arzt Tertius Lydgate zu nennen, der für seinen Beruf lebt und die medizinische Forschung zum Wohle der Allgemeinheit voran treiben möchte. Das wird natürlich von den Etablierten des Städtchens mit großer Skepsis betrachtet.

Vergessen darf man auch keinesfalls Fred Vincy, Rosamonds Bruder: Ein junger Lebemann, der große Erwartungen auf eine reiche Erbschaft hegt und sich dieser auch im Vorhinein schon bedient, was Komplikationen mit sich bringt. Da gibt es den guten Pfarrer Fairbrother, der seine Schäfchen kennt, stets eingreift und vermittelt, wo er gebraucht wird.

Selbstverständlich gibt es auch Bösewichter in Middlemarch, Unredlichkeiten, Vorurteile, Versuchungen, Gerüchte und Skandale. Viele der genannten Figuren sind miteinander verwoben – entweder persönlich oder familiär. Nach und nach entfaltet der Roman seine Kraft durch die Vielseitigkeit der Handlung, durch unerwartete Wendungen, seine Sprachbrillanz und seinen Inhalt. Es ist wunderbar, wenn der auktoriale Erzähler sich immer wieder einschaltet, um auch die andere Seite der Medaille zu beleuchten und zum Nachdenken anzuregen. Zahlreiche zeitlose Weisheiten flankieren den Text, oft auch mit einer guten Prise ironisch-sarkastischen Humors gewürzt.

An der gewünschten Rolle der Frauen in dieser Gesellschaft wird kein Zweifel gelassen. Der Weg zu Bildung war ihnen weitgehend verstellt. Sie galten als hübsches Anhängsel ihrer Männer, selbständiges Denken wurde ihnen aberkannt. Allgemeingut war die Tatsache, dass Frauen nur mit mäßigem Intellekt ausgestattet waren, was ihnen die Männerwelt auch immer wieder gerne vorhielt. Die Autorin übt offene Kritik an dieser herrschenden Meinung und zeigt mit Hilfe ihrer erfundenen Frauengestalten Wege auf, wie dieses Schicksal gestaltet werden konnte.

George Eliot hat einen großartigen Roman geschrieben, den ich auch heutigen Leser*innen ans Herz legen möchte. Nach kurzer Zeit taucht man ein in die altertümliche Welt von Middlemarch, nimmt Anteil an den verschiedenen Schicksalen, falschen Entscheidungen und zwischenmenschlichen Verstrickungen seiner Bewohner. Immer mehr Fahrt nimmt die Handlung auf, um in einem glaubwürdigen Finale zu münden. Das alles in einer Sprache, die ich als reinen Lesegenuss empfunden habe.

Am Ende ist man erstaunt, wie Vieles von damals auch heute noch Bedeutung hat. Manche Normen ändern sich nie, sind völlig zeitlos. Ein großartiges Stück Literatur, das ich uneingeschränkt empfehlen möchte!


 

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Anlässlich des 200. Geburtstages der Autorin George Eliot, die unter männlichem Pseudonym schrieb, gab der dtv - Verlag diese prächtige, neu bearbeitete Neuauflage des Klassikers heraus. Das Buch ist eine Pracht: Nicht nur der Schutzumschlag ist hochwertig mit fantastischen Blumenmustern gestaltet, sondern auch der feste Einband. Dem Roman sind ein Vorwort von Elisabeth Bronfen voran- und ein Nachwort von Rainer Zerbst hintangestellt. Beide Texte betten den Klassiker wunderbar in seinen historischen Kontext ein und weisen auf literarische Besonderheiten hin. Nicht umsonst wurde „Middlemarch“ im Jahr 2015 zum bedeutendsten englischen Roman gewählt.

Die Handlung ist in einer fiktiven, aber typischen, englischen Kleinstadt um 1830 angesiedelt. Im Mittelpunkt steht Dorothea Brooke, die seit dem Tod der Eltern gemeinsam mit ihrer Schwester Celia auf dem Gut ihres Onkels Arthur lebt. Dorothea möchte ihr Leben sinnvoll verbringen, es nicht mit Vergnügen, Trödel und Tand vergeuden. In diesem altruistischen Bestreben setzt sie sich völlig vom idealen viktorianischen Frauenbild ab, dem Celia viel eher zu entsprechen scheint. Als Dorothea den ältlichen Geistlichen Edward Casaubon kennenlernt, wächst in ihr die Hoffnung, der vorbestimmten Enge entkommen zu können. Sie sieht in Casaubon einen zutiefst gebildeten Mann, der seit Jahren an einem großen Werk über Religionsgeschichte arbeitet, das ihm einst großen Ruhm einbringen wird, und träumt „von einer tiefen Gemeinsamkeit auf geistigem Gebiet“. Sowohl ihre Schwester und ihr Onkel als auch der Nachbar Sir James Chettam (der ebenfalls Interesse an einer Verbindung mit Dorothea hat) raten ihr davon ab, den deutlich älteren Mann zu heiraten. Ebenso sät der auktoriale Erzähler immer wieder Zweifel am Bräutigam. Dorothea lässt sich aber nicht beirren und geht die Ehe ein.

Der Roman wird von weiteren interessanten Frauenfiguren bevölkert: Dorotheas Schwester Celia wirkt weit angepasster und wird einen vermögenden, „normalen“ Ehemann wählen, der sie versorgen und ihr die Annehmlichkeiten der Zeit ermöglichen kann. Celia hat keine Schwierigkeiten, sich dem geltenden Patriarchat zu beugen und den Mann als Denker und Entscheider anzuerkennen. Dennoch wird auch sie ihre Interessen durchzusetzen wissen.

Rosamond Vincy ist ein verwöhntes 17-jähriges Mädchen aus reicher Fabrikantenfamilie. Sie ist bildhübsch und die Männer liegen ihr zu Füßen. Sie selbst wiederum träumt davon, Middlemarch zu verlassen und setzt sich in den Kopf, sich mit einem Zugereisten zu verbinden. In der Wahl ihrer Mittel geht sie sehr narzisstisch und wenig zimperlich mit ihrem Umfeld vor.

Das krasse Gegenstück zu Rosamond ist deren Jugendfreundin Mary Garth. Sie hat das Herz am rechten Fleck, gesunden Menschenverstand, sie muss sich fleißig ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und entstammt einfachen, aber angesehenen Verhältnissen. Selbstverständlich hat sie auch einen Verehrer. Jener muss sich aber noch ordentlich bemühen, um auch ihre Aufmerksamkeit zu erlangen…

Über das damals vorherrschende Gesellschaftsbild gibt es keinen Zweifel, nicht umsonst wird der Roman auch „Eine Studie über das Leben in der Provinz“ genannt. Um die genannten vier Frauen ranken sich natürlich noch zahlreiche weitere Figuren. Neben den bereits genannten Ehegatten ist hier der Arzt Tertius Lydgate zu nennen, der für seinen Beruf lebt und die medizinische Forschung zum Wohle der Allgemeinheit voran treiben möchte. Das wird natürlich von den Etablierten des Städtchens mit großer Skepsis betrachtet.

Vergessen darf man auch keinesfalls Fred Vincy, Rosamonds Bruder: Ein junger Lebemann, der große Erwartungen auf eine reiche Erbschaft hegt und sich dieser auch im Vorhinein schon bedient, was Komplikationen mit sich bringt. Da gibt es den guten Pfarrer Fairbrother, der seine Schäfchen kennt, stets eingreift und vermittelt, wo er gebraucht wird.

Selbstverständlich gibt es auch Bösewichter in Middlemarch, Unredlichkeiten, Vorurteile, Versuchungen, Gerüchte und Skandale. Viele der genannten Figuren sind miteinander verwoben – entweder persönlich oder familiär. Nach und nach entfaltet der Roman seine Kraft durch die Vielseitigkeit der Handlung, durch unerwartete Wendungen, seine Sprachbrillanz und seinen Inhalt. Es ist wunderbar, wenn der auktoriale Erzähler sich immer wieder einschaltet, um auch die andere Seite der Medaille zu beleuchten und zum Nachdenken anzuregen. Zahlreiche zeitlose Weisheiten flankieren den Text, oft auch mit einer guten Prise ironisch-sarkastischen Humors gewürzt.

An der gewünschten Rolle der Frauen in dieser Gesellschaft wird kein Zweifel gelassen. Der Weg zu Bildung war ihnen weitgehend verstellt. Sie galten als hübsches Anhängsel ihrer Männer, selbständiges Denken wurde ihnen aberkannt. Allgemeingut war die Tatsache, dass Frauen nur mit mäßigem Intellekt ausgestattet waren, was ihnen die Männerwelt auch immer wieder gerne vorhielt. Die Autorin übt offene Kritik an dieser herrschenden Meinung und zeigt mit Hilfe ihrer erfundenen Frauengestalten Wege auf, wie dieses Schicksal gestaltet werden konnte.

George Eliot hat einen großartigen Roman geschrieben, den ich auch heutigen Leser*innen ans Herz legen möchte. Nach kurzer Zeit taucht man ein in die altertümliche Welt von Middlemarch, nimmt Anteil an den verschiedenen Schicksalen, falschen Entscheidungen und zwischenmenschlichen Verstrickungen seiner Bewohner. Immer mehr Fahrt nimmt die Handlung auf, um in einem glaubwürdigen Finale zu münden. Das alles in einer Sprache, die ich als reinen Lesegenuss empfunden habe.

Am Ende ist man erstaunt, wie Vieles von damals auch heute noch Bedeutung hat. Manche Normen ändern sich nie, sind völlig zeitlos. Ein großartiges Stück Literatur, das ich uneingeschränkt empfehlen möchte!



Liebes Literaturhexle,
eine wunderbare Rezension!
Es ist so schön, mit Hilfe einer Rezension noch mal kurz ins gelesene Buch abtauchen zu können. Und das konnte ich mit Deiner Rezension wunderbar.
Du hast mir noch einmal ein paar Minuten in Middlemarch beschert. Das war schön!
 
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Liebes Literaturhexle,
eine wunderbare Rezension!
Es ist so schön, mit Hilfe einer Rezension noch mal kurz ins gelesene Buch abtauchen zu können. Und das konnte ich mit Deiner Rezension wunderbar.
Du hast mir noch einmal ein paar Minuten in Middlemarch beschert. Das war schön!
Ich danke dir für das aufrichtige Lob :).
Es war auch ein wunderbares Buch, das wir in unserer ebenso wunderbaren Leserunde genießen durften :rolleyes:.
 
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