Ein tragischer Suizid und ein Nachtwächter in Bedrängnis
Der Lemming versteht sie nicht mehr, die Welt. Und noch weniger versteht er das Kauderwelsch aus Internet-Sprache und Englisch, das sein Sohn Ben mit seinem Freund Mario spricht. Als der Lemming sich mit ebendiesem Mario durch Zufall eine Straßenbahn teilt, passiert das Unfassbare: Auf Marios Handy-Display erscheint eine offenbar schockierende Nachricht, der Bub rennt unvermittelt aus der Bahn und springt von einer Brücke in den Tod.
Der Lemming ist fassungslos. Noch mehr, als plötzlich ein Shitstorm auf ihn einprasselt: Die Medien haben aus dem Mann, der mit dem unglücklichen Burschen vor dessen Suizid gesprochen hat, einen pädophilen Triebtäter gemacht. Und plötzlich sind sein Foto und sein Name überall. Auch Chefinspektor Polivka, der dem Lemming vertraut und mit ihm herausfinden will, was wirklich hinter Marios Tod steckt, gerät ins Kreuzfeuer der Öffentlichkeit. Bald ranken sich auch wilde Spekulationen um Marios Familie - denn die engagiert sich in der Flüchtlingshilfe, während Wien im Zeichen von dirty campaigning und politischer Hetze steht.
Der Lemming indes droht sich in verschiedensten Netzen zu verwickeln: Im World Wide Web, mit dessen Gefahren er es zu tun bekommt, in den Verstrickungen korrupter Politiker, die nicht nur im Internet Fake News verbreiten, und in den feinen Fäden, die die Presse spinnt, wenn sie mit haltlosen Behauptungen eine möglichst große Leserschaft einfangen möchte.Kaufen
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In seinem fünften Lemming-Roman greift Stefan Slupetzky ein aktuelles Thema auf: Mobbing und Meinungsmache in den digitalen Medien. Erschienen ist der 200-seitige Kriminalroman „Im Netz des Lemming“ im Januar 2020 bei Haymon.
Leopold „Lemming“ Wallisch wird Zeuge, wie sich der Freund seines Sohnes, Mario, von einer Brücke vor eine U-Bahn stürzt. Was ist der Grund für diesen Suizid? Als dann auch noch Berichte zu dieser Schreckenstat im Internet kursieren und jeder Hinz und Kunz seinen Senf dazugibt, gerät Lemming schnell ins Visier der Internetgemeinde - und ein regelrechter Shitstorm bricht über ihm los. Mit Hilfe seines Freundes, Chefinspektor Polivka, begibt er sich auf die Suche nach der Wahrheit. Und bald schon scheinen die beiden im World Wide Web gefangen zu sein.
Um es vorweg zu schreiben: Der Roman liest sich wunderbar flüssig und kurzweilig. Die Sprache ist eingängig und verhehlt auch nicht die Wiener Wurzeln des Autors. Die Internet-Sprache wird herrlich aufs Korn genommen, wenn Chat-Abkürzungen, O Em Dschi!, ausgeschrieben werden oder Lemming den Shitstorm der Einfachheit halber mit „Scheißsturm“ übersetzt. Dieses sorgt beim Lesen für viele Lacher.
Der Fall an sich – der Suizid eines elfjährigen Jungen – ist alles andere als lustig. Das hat mich vor dem Lesen auch etwas kritisch sein lassen. Aber trotz aller Bedenken hat Slupetzky, was den Fall des Jungen betrifft, stets den richtigen Ton getroffen. Zwar ist alles witzig, weil satirisch verpackt, aber die Dramatik, die hinter Marios Schicksal steckt, geht niemals verloren. Durch den engen zeitlichen Rahmen der Handlung – sie umfasst vier Tage – wird pointiert und zugespitzt dargestellt, welchen Einfluss soziale Medien auf den einzelnen Menschen und sein Schicksal haben.
Ein Merkmal der Satire ist die Übertreibung. Klar. Doch hat der Autor hier m.E. das eine oder andere Mal doch zu viel des Guten gewollt. Auch wenn der „Lemming“ mit seinen über fünfzig Jahren vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit ist, erscheint mir sein Unwissen in Bezug auf die digitalen Medien und ihre Gefahren doch sehr unglaubwürdig. Wie er und sein Mitstreiter sich verkleiden, um auf der Straße nicht erkannt zu werden, oder ein Viertel nach dem anderen trinken, konnte mich ebenfalls nur anfangs erheitern. Irgendwann werden viele Scherze einfach langweilig.
Stehen zu Beginn des Geschehens noch Mario und sein Schicksal als Mobbing-Opfer im Zentrum, wird nach und nach der Fokus auf weitere Missstände in der (österreichischen) Gesellschaft gelenkt. Teils ist dieses verständlich, werden doch in den Medien Meinungsmache betrieben und durch Fake News gezielt Falschinformationen verbreitet. Allerdings sagt mir gerade die Fülle an politischen Themen nicht sehr zu, da vieles angerissen, jedoch wenig vertieft wird – durchaus ein Spiegel unserer Gesellschaft, jedoch eben kein tiefgreifender. Leider gerät dadurch auch Marios Schicksal ein wenig ins Hintertreffen. Ob gewollt oder nicht, mich hat das beim Lesen gestört.
Auch der Showdown am Ende hat mein Lesevergnügen ein wenig geschmälert. Slupetzkys Versuch, nach einem doch eher unblutigen Geschehen etwas mehr Action in die Handlung einzubauen, schrammt meiner Meinung nach haarscharf an Klamauk und Slapstick vorbei – eine Tendenz in Büchern, mit der ich wenig anfangen kann.
Insgesamt fühlte ich mich von „Im Netz des Lemming“ gut unterhalten, vollends überzeugen konnte mich dieses Buch jedoch nicht, denn dafür fehlt es einfach an Tiefe – und gerade sie hätte ich bei dieser Thematik erwartet. Schade.
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