Rezension Rezension (4/5*) zu Mitternachtskinder: Roman von Salman Rushdie.

SuPro

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28. Oktober 2019
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Lesenswert!

Erst einmal kurz zum Inhalt:

1915 kehrt der Großvater des Erzählers, Doktor Aadam Aziz, 25jährig aus Deutschland, wo er Medizin und Politik studiert hat, nach Srinagar, im Norden Indiens, zurück.
Wir erfahren, auf welch’ skurrile Art und Weise Aadam Aziz die Tochter eines Grundbesitzes behandeln muss und wie er sich im Laufe von drei Jahren in sie verliebt.
Und wir erfahren, wie sich der frühere, sich gegen alles Neue sperrende Freund Tai vom heimgekehrten und jetzt fremden Arzt Aadam abwendet und ihn sogar aus der Heimat vertreibt.

Aadam bekommt eine Stelle in der südlich liegenden Universitätsstadt Agra und noch vor seiner Abreise heiratet er die o. g. langjährige Patientin Naseem.
Mit ihrer beträchtlichen Mitgift können sich die Beiden in Agra ein Haus kaufen.
Das Paar bekommt 3 Töchter und 2 Söhne und es ist höchst amüsant aber auch sehr interessant, eingebettet ins Zeitgeschehen zu erfahren, wer die Eltern des Erzählers werden und warum und wie seine Mutter zu einem neuen Vornamen, Amina statt Mumtaz, kam.

Amina und Ahmed, die Eltern des Erzählers, ziehen von Agra nach Alt-Delhi und hier erleben wir, inzwischen im Jahr 1947 angelangt, hautnah heftige Konflikte und Hass zwischen Hindus und Moslems.

In Bombay kommt schließlich ihr erster Sohn, Saleem, der Erzähler, zur Welt: am 15. August 1947 um Mitternacht.
Zeitgleich mit der Geburt des unabhängigen Indiens erblickt er das Licht der Welt. Und zeitgleich mit der Geburt Shivas.
Und fast zeitgleich mit 1000 anderen Mitternachtskindern, die alle zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens geboren werden.

Auf den verbleibenden Seiten erfahren wir vom bewegten Leben Saleems, bis dieser, 31jährig, nach vielen Erlebnissen und Ortswechseln wieder in Bombay Fuß fasst und der Chef einer Pickles-Fabrik wird.
Aus dieser Situation heraus schreibt Saleem seine Geschichte auf und liest Padma, einer sich um ihn bemühenden Angestellten der Fabrik, daraus vor.

So taucht man abwechselnd in Vergangenes ein und kehrt zwischendurch immer wieder zurück ins gegenwärtige Arbeitszimmer des Erzählers, um dort ein Gespräch zwischen Saleem und Padma oder Gedanken Saleems mitzuerleben.

Dass der Erzähler den Leser zeitweise direkt anspricht, zieht ihn noch mehr ins Geschehen hinein. Der Roman bekommt eine persönliche Note: es ist fast so als säße man wie Padma da und lausche einer Geschichte.

Man hat es hier m. E. mit dem Roman eines begnadeten Geschichtenerzählers zu tun. Bereits der erste Abschnitt saugt einen ins Geschehen hinein. Es erwarten uns eine stellenweise märchenhafte Atmosphäre und amüsante Episoden, durchtränkt von metaphorischen Bildern und magischen, übersinnlichen Gedanken mit Einsprengseln von Glauben und Aberglauben.

Der Roman wird interessant, lebendig und fesselnd, manchmal schonungslos und schnörkellos in Sprache und Beschreibung erzählt.
Im Verlauf waren mir die Schilderungen manchmal etwas zu detailliert, zu ausführlich und zu ausschweifend.

Aber durch überraschende Wendungen und Ereignisse wurde mir nie langweilig. Es gab durchaus auch Längen, sowie Rätselhaftes und schwer oder nicht Verständliches, aber ich wollte das Buch zu keinem Zeitpunkt abbrechen, weil ich durchgehend wissen wollte, wie es mit Saleem weitergeht und endet.

Die jüngere politische Geschichte Indiens, Mythen, Geschichten und die Biographie Saleem Sinais und seiner Familie sind raffiniert miteinander verflochten, verkettet und verwoben.

Wenn man sich auf diese Art des Erzählens und auf diesen Mix einlässt, findet man Gefallen an dem über 700 Seiten umfassenden Werk.

Der Roman hinterlässt mich mit einer gewissen Ambivalenz. Er ist interessant und irgendwie packend aber doch nicht wirklich fesselnd. Das gewisse Etwas fehlte mir.
Salman Rushdie packt viel Historisches, viel Politik und viele Geschichten in seinen Roman.
Weil ich diesbezüglich wenig Vorwissen mitbrachte, war ich zeitweise durch das Streifen der vielen Themen überfordert, weil ich sie nicht richtig einordnen konnte.

Ich „musste“ bzw. wollte deshalb viel recherchieren und kam einerseits aus dem Lesefluss, konnte aber andererseits durch die Kombination aus Recherche und Lektüre meinen Horizont erweitern, was ich sehr schätze und was ein Buch für mich zu etwas Besonderem macht.

Auch die teilweise sehr langen Sätze störten den Lesefluss immer wieder, weil das Lesen viel Konzentration erforderte und ich manchmal am Ende des Satzes wieder vorne beginnen „musste“.

Wenn man sich, wie ich, auf einen anstehenden Indienurlaub einstimmen möchte und sich auf den o. g. Mix, die Notwendigkeit der Recherche oder das Aushalten von Unklarheiten und die teilweise langen Sätze einlassen möchte, wird man mit einer Geschichte belohnt, die man so schnell bestimmt nicht vergisst.

Meines Erachtens kein „must read“ aber durchaus lesenswert.

 
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2. April 2017
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Liebe @SuPro, da dieser Roman auch den Booker Preis gewonnen hat, steht er in meinem "Büchervorrat" :)
Du hast ihn sehr gut geschildert, so in etwa hatte ich mir den Inhalt vorgestellt...
Mal sehen, wann ich den Kick zum Lesen bekomme, du hast ihn mir mit deinem Abschlusssatz nicht gegeben ;)
 

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Liebe @SuPro, da dieser Roman auch den Booker Preis gewonnen hat, steht er in meinem "Büchervorrat" :)
Du hast ihn sehr gut geschildert, so in etwa hatte ich mir den Inhalt vorgestellt...
Mal sehen, wann ich den Kick zum Lesen bekomme, du hast ihn mir mit deinem Abschlusssatz nicht gegeben ;)
... wir waren vor einem Jahr in Indien und da wollte ich mich zur Vorbereitung etwas einlesen. Das ging mit diesem (und einigen anderen) Büchern wunderbar! Ich hätte es sonst wahrscheinlich nicht gelesen, aber jetzt bin ich froh drum...
 
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