Rezension (3/5*) zu Aufstieg und Fall großer Mächte: Roman von Tom Rachman

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parden

Gast

Tooly Zylberberg liebt Tee, lange Spaziergänge und den Buchladen World's End in einem kleinen walisischen Städtchen, dessen stolze, wenn auch nicht gewinnbringende Besitzerin sie ist. Tooly hütet nicht nur tausende Bücher, sondern auch eine Fülle von Geheimnissen, ihre eigene Vergangenheit betreffend, die sie selbst nicht alle kennt. Als sie klein war, hatte Paul sie entführt und war mit ihr durch die Welt gezogen, während Sarah Chaos verbreitete, wo immer sie auftauchte. Doch waren da noch Humphrey, der griesgrämige Russe, der Bücher über alles liebte, und Venn, der Liebhaber von Sarah, ebenso charismatisch wie egozentrisch, dessen Weltsicht Tooly für immer prägen sollte. Ein Dreieck, in dem Tooly versuchte, Grund unter die Füße zu bekommen, während das Leben sie durch die Luft wirbelte. Sie fällt durch alle Netze und Raster ...

Matilda, genannt Tooly, lebt ein einsames Leben. Irgendwie gestrandet wirkt sie, da in ihrem Buchladen in Wales, richtig am Platz und doch irgendwie auch nicht. Sie liebt die Bücher, versinkt in deren Welten, und doch ist Tooly eine Getriebene. Immer wieder bricht sie auf zu langen, einsamen Spaziergängen, läuft weiter und weiter. Keine Familie. Keine Freunde - nur ein Telefonbuch mit durchgestrichenen Namen. Ein Weglaufen vor der Vergangenheit...

"Freunde wollten eine Lebensgeschichte hören. Die Vergangenheit war bloß dann wichtig, wenn andere darüber etwas wissen wollten - sie waren es, die verlangten, das man eine Geschichte besaß. Alleine kam man auch ohne zurecht." (S. 61)

Das ist die Tooly der Gegenwart, etwa 30 Jahre alt, verliebt allein in ihren Buchladen, nur so viel besitzend, wie in eine Segeltuchtasche passt. Von allem anderen hat sie sich getrennt. Sie fühlt sich wohl mit dem Buchladen, doch gleichzeitig wartet sie darauf, dass ihr Erspartes zur Neige geht, damit sie wieder weiterziehen kann.
Doch Rachman gewährt auch einen Einblick in die jüngere Tooly - einmal als 20Jährige , ein anderes Mal als Kind mit neun Jahren.

Die 20Jährige lernen wir in New York kennen, wo sie versucht, alle Straßen der verschiedenen Viertel abzulaufen, um sie dann in einem alten Stadtplan zu markieren. Sie wohnt bei einem alten Mann namens Humphrey, der nur zwei Lieben kennt: das Schachspiel und Aberhunderte von meist schon vollkommen zerlesenen Büchern. Darüber diskutiert er gerne mit Tooly in seinem russischen Akzent. Doch Tooly taucht auch unversehens in fremden Wohnungen auf, oft nur für einen kurzen Einblick in fremde Leben - wenn sie gelassen wird, aber auch länger. Probiert andere Leben, andere Rollen.
Der Tooly als Kind schließlich begegnen wir in Bangkok, wohin sie gerade mit Paul gezogen ist. Paul, der maximal ein Jahr lang am selben Ort lebt, den der Beruf zwingt, immer weiterzuziehen, und mit ihm Tooly. Kein herzliches Verhältnis pflegen die beiden miteinander, Paul ist sehr distanziert. Tooly geht zur Schule, findet sich dort nur schwer ein, hat ansonsten keinerlei Kontakte, nur den zu Paul und zu der gerade eingestellten Haushaltshilfe. Bücher sind schon für die 9Jährige ein großer Trost und eine Möglichkeit, der Wirklichkeit zu entkommen...

"Bücher (...) sind wie Pilze. Sieht man nicht hin, vermehren sie sich. Ihre Zahl wächst nach Regeln von Zinseszins: Ein Interesse führt zu nächstes Interesse, und das verbindet sich mit drittes Interesse. Und schwups, hast du nicht gesehen, hat man mehr Interesse als Platz im Schrank." (S. 407)

Zwischen den drei Erzählebenen der verschieden alten Tooly wechselt das Buch kapitelweise, und immer bekommt man ein paar Puzzleteile mehr zu fassen, setzt Stück für Stück das Leben von Tooly zusammen, bis sich ein ganzes Bild ergibt. Doch das dauert. Und wie bei einem vielteiligen Puzzle sitzt man anfangs etwas hilflos vor der Aufgabe, verzagt etwas bei der Betrachtung eines einzelnen Teils, denn man versteht noch nicht dessen Bedeutung. Und manchmal wird man fast etwas mutlos, wenn man erkennt, wieviel einem noch fehlt, obwohl man sich doch schon einige Zeit lang damit beschäftigt hat.
So erging es mir mit dem Buch. Immer wieder beleuchtet Rachman einen Ausschnitt aus Toolys Leben, aufwändig im Bühnenbild, detailverliebt und bildhaft dargestellt, kleine Szenen plastisch herausgearbeitet. Rachmans Schreibstil ist unbestritten von Talent geprägt. Der anfangs eher lockere Ton schlägt um, als das Gesamtbild deutlicher wird. Beziehungslosigkeit und Einsamkeit wabern durch die Zeilen - nicht nur was Tooly anbelangt, sondern auch jeden, der ihr begegnet oder mit dem sie zu tun hat.

Ich wollte dieses Buch mögen, in die Erzählung eintauchen. Doch es fiel mir schwer, überhaupt in die Geschichte hineinzukommen. Manchmal auch die Langatmigkeit zu ertragen. Irgendjemanden der Personen zu mögen - leider gelang es mir nur bei einem, Humphrey, unbestritten mein Held, trotz seiner oft ruppigen Art. Doch er war nur ein Teil der Geschichte, und so habe ich mich oft eher durchs Buch kämpfen müssen, Pausen eingelegt, bevor ich einen Neustart wagte.
Letztlich war die Geschichte in sich rund, der Schluss stimmig nachvollziehbar und auf angenehme Art offen, und Tooly auf ihrem Weg ein Stück weiter:

"Die Menschen behielten ihre Bücher, dachte Tooly, nicht, weil sie sie noch einmal lesen wollten, sondern weil die Bücher ihre Vergangenheit enthielten - die Struktur des eigenen Ichs an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit..." (S. 484 f.)

Ich bedauere es nicht, das Buch gelesen zu haben. Ich hätte es nur gerne lieber gemocht und weniger gekämpft... Anderen in der Leserunde gefiel das Buch ausnehmend gut, und ich gestehe, dass ich sie darum beneide.
Am besten, man macht sich selbst ein Bild davon!

© Parden

parden

Zum Buch... (evtl. mit weiteren Rezensionen)
 
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