Rezension Rezension (5/5*) zu Die Ladenhüterin: Roman von Sayaka Murata.

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28. Oktober 2019
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Baden Württemberg
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Lesetipp

Es geht um Keiko, eine Mittdreißigerin mit autistischen Zügen.
Der Roman beginnt mit einer treffenden Beschreibung ihrer Empathielosigkeit und ihrer Unfähigkeit/Schwierigkeit des Zugangs zu ihrer eigenen Gefühlswelt. Der Leser erfährt, dass für Keiko nur Ratio und Logik zählen und dass sie durch Imitation einen Weg findet, um in der Gesellschaft einen, wenn auch noch so kleinen, Platz und eine Aufgabe, die ihr Sinn gibt, zu bekommen, um sich „normal“ zu fühlen und um in Ruhe gelassen, also nicht gemobbt, kritisiert oder bevormundet zu werden.

Mit dem Eintritt Shirahas, einem extrem unsympathischen, abwertenden, unverschämten und selbstgefälligen Mann in Ihr Leben, werden interessante und bedeutsame Themen eingeführt und beginnt der Weg in den Irrsinn und in die Absurdität, der dann aber, glücklicherweise, ein für Keiko recht gutes Ende findet.

Es geht um Anpassung, Unterwerfung, Konformität versus Individuation, Unabhängigkeit und Freiheit.

Eine These ist: Anpassung führt zur Akzeptanz, während Andersartigkeit zu Ausstoßung und Ausgrenzung führt.

Ins Auge springende Stilmittel der Autorin sind Übertreibungen, Extreme und Zuspitzungen bishin ins Absurde.

Shiraha, der Mann, der ihr Leben aus dem Tritt bringt, vertritt solch’ extreme Positionen, dass man sich nur über ihn empören kann. Dennoch führt gerade diese Aggravierung dazu, dass man sich wirklich mit dem Thema auseinandersetzt. Dass man sich wirklich fragt, ja fragen MUSS, ob in seinen Thesen ein Körnchen Wahrheit liegt.

Während er zwar verbal gegen Anpassung, Gesellschaftsdruck und Konformität rebelliert, passt er sich an und resigniert aus Bequemlichkeit, fehlendem Mut und Selbstgefälligkeit.

Keiko hingegen ist da etwas aktiver. Sie will etwas tun und verändern, aber ihr Ziel ist zunächst auch nur Konformität und Ein-, Unterordnung, um dazu zu gehören. Sie erkennt, dass Veränderung notwendig ist. Aber ist die Veränderung, die sie vornimmt bzw. vorzunehmen bereit ist, eine andere, als Anpassung und Resignation? Nein, zunächst nicht. Sie fügt sich fast, erwägt, dem (vermeintlichen) gesellschaftlichen Druck nachzugeben, um dazuzugehören und Kritik zu umgehen.

Der Preis, den sie dafür - zunächst - bezahlt, ist ziemlich hoch. Denn sie „muss“ sich dafür erneut unterordnen... einem Taugenichts, Pascha, Hallodri und Filou… und sich dadurch demütigen (lassen).
Der Preis: ein falsches ICH und faule Kompromisse.

Verbergen sich hinter der „ach so fortschrittlichen und toleranten Welt“ vielleicht tatsächlich archaische, konservative und eig. vollkommen veraltete Vorstellungen, Werte und Normen, die auf uns einwirken und uns antreiben?

Die Autorin greift eine unglaublich spannende, ernste und tiefgründige Thematik auf, aber manchmal scheint es mir, als würde sie den Leser zu sehr mit der Nase darauf stoßen. So, als würde sie ihm nicht zutrauen, zu verstehen, um was es geht.
Aber sie bettet das Thema in eine kurzweilige und unterhaltsamer Geschichte ein; das gefällt mir und hält mich bei der Stange.

Was halte ich von der These, dass Anpassung zu Akzeptanz und Andersartigkeit zur Ausstoßung führt?
- Manchmal ist das so. Zum Beispiel unter Kindern.
- Nicht überall ist das so. In manchen Kulturen scheinen es eher Exklusivität und Einzigartigkeit zu sein, die angestrebt werden.
- Das ist bestimmt nicht immer so.
- Es gibt viele Menschen, die selbstverständlich davon ausgehen, dass dieser Zusammenhang stimmt und die befürchten, dass das Bedrohliche - Zurückweisung und Ablehnung wegen fehlender Konformität - eintritt.

Fragen drängen sich auf:
Muss es Abwertung und Außenseitertum geben, um sich der eigenen „Normalität“ und Größe zu versichern?
Müssen lästernde Äußerungen und sich einmischendes Verhalten sein, um sich der eigenen „Richtigkeit“ und Großartigkeit zu versichern?
Darf man Toleranz erwarten und Normen hinterfragen?
Wird man als „unnormal“ abgestempelt, wenn man nicht ins Bild passt?

Als Keiko nach ihrer Kündigung ihre Uniform auszieht habe ich das Gefühl, dass sie einen großen Fehler macht. Ich hätte sie am liebsten davon abgehalten. „Tu‘s nicht!“ Ich hatte die Sorge und den Eindruck, dass sie ihr ICH und ihren Lebenssinn an den Nagel hängt, um zu tun, was MAN tut. Dann das zu erwartende Resultat: Wehmut über den Verlust des bisherigen Lebensinhalts. Verlust von Halt, Orientierung und Struktur. Vernachlässigung ihrer selbst. Depression.

Da sie kaum Zugang zu ihrer Gefühlswelt hat und alles mit Verstand und Logik anzugehen versucht, kommt ihr der Gedanke, wieder Halt zu finden, indem sie ihre „ursprünglichste“ Funktion erfüllt: gebähren. Glücklicherweise wird sie davon abgebracht.

Keiko wird immer mehr zu Shirahas Marionette und geht sogar auf sein Geheiß zu einem Bewerbungsgespräch. Fast zumindest. Glücklicherweise führen Intuition und Instinkt sie dahin zurück, wo sie sich wohl und sicher gefühlt hat: In ein Konbini. Zu ihrer „Bestimmung“ und zu dem, was sie kann. Zu dem, was ihr Sinn, Halt und Struktur gibt.
Zum vllt. ersten Mal weigert sie sich aktiv, sich unterzuordnen. Sie widersetzt sich Shiraha und findet ihren Weg wieder, den sie seit seinem Eintritt in Ihr Leben Schritt für Schritt verlassen hat. Und den sie vor seinem Eintritt noch gar nicht bewusst als ihren Weg gesehen hat. Den sie zunächst auch nur gegangen ist, um sich „normal“ zu fühlen, zu dem sie jetzt aber aus selbstbestimmteren und eigenmotivierteren Motiven zurückkehrt.

Mir gefiel das kurzweilige, unterhaltsame, z. T. verstörende und gewichtige Themen enthaltende Buch sehr und ich empfehle es gerne weiter.

 
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