Vor diesem letzten Abschnitt habe ich meinem Mann erzählt, dass M. Atwood eine begnadete Autorin ist.
Dass sie wunderbar seziert und beschreibt.
Dass sie Atmosphäre schafft und vermittelt.
Dass das Buch und seine Einblicke in die Nachkriegszeit, in den kanadischen Alltag und das Frauenbild dieser Streit und in die Künstlerszene interessant sind.
Dass sie diese Mobbinggeschichte und ihre Folgen hervorragend herausgearbeitet hat.
Aber ich habe ihm auch erzählt, dass der Roman mich emotional nicht fesselt, dass es irgendwie nicht mein Thema ist, dass etwas fehlt...
Und dann kam der letzte Abschnitt und es ging mir anders als zuvor.
Da war ich beim Umblättern viel enthusiastischer.
Ich meinte, die große Bedeutung von Rückkehr und Ausstellung, sowie die „Aussage“ hinter dem Roman zu verstehen.
Das Gelesene bekam somit einen Sinn für mich, es wurde rund.
Am Ende schloss ich das Buch dann doch ziemlich befriedigt.
Darum war ich jetzt gerade völlig überrascht über Literaturhexles und Sursulapitschis Eindrücke, die aber völlig nachvollziehbar und erfrischend klar sind.
Es ist, als hätte Elaine das Konkrete, also die Rückkehr nach Toronto und die Ausstellung gebraucht, um klar zu sehen, um Frieden zu schließen mit ihrer Vergangenheit und damit ihre Wunden endlich heilen und sie auch eigene vergangene Motive erkennt und um Schmerz in Wehmut zu verwandeln.
Durch dieses Konkrete kam die innere Bearbeitung und schließlich Verarbeitung in Gang.
Der letzte intime Kontakt mit Jon, um mit ihm abzuschließen.
Die Beziehung mit Cordelia wird ihr klarer: „Wieso habe ich vierzig Jahre gebraucht, um das herauszufinden?“ Diese Bemerkung bezieht sich zwar konkret auf das Loch in der Eierschale, kann, finde ich, aber auch in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. (S. 469)
Sie geht die Wege und besucht die Orte ihrer Kindheit und Jugend und sie taucht in Erinnerungen ein und setzt sich auseinander - eine Voraussetzung für Be- und Verarbeitung.
Elaine durchlebt rückblickend so Manches.„... Ich bin gefangen. Ich möchte nicht immer und ewig neun Jahre alt sein.“ (S. 488) Dieses erneute Durchleben ist eine Chance, es verarbeiten und abhaken zu können.
Dass ihre alte und kranke Mutter sie auf die damalige schwere Zeit mit Cordelia und Co anspricht, treibt dieses Durcharbeiten des Schmerzlichen voran. Ihre Mutter bittet sie damit indirekt um Absolution, denn sie hatte damals alles bemerkt, aber nicht reagiert, weil sie nicht wusste, wie. Schwache Ausrede.
Elaines Gedanke „Ich bin mir bewusst, dass zwischen uns eine Schranke ist. Die ist seit langem da. Etwas, was ich ihr übel genommen habe...“ (S.485) ist sehr bedeutsam und vllt auch ein oder gar DER Grund für die distanzierte Beziehung von Eltern und Tochter, als sie nicht mehr zusammenleben. Hat Elaine ihr übel genommen, dass sie sie nicht beschützt hat?
Die Überlegung der Mutter, dass Grace und nicht Cordelia die Schlüsselfigur war, scheint jetzt, so viele Jahre später, zwar interessant, aber gar nicht mehr von so großer Bedeutung für Elaine zu sein.
Mutter und Tochter misten aus. Erinnerungen an früher tauchen zwangsläufig auf und machen es, genauso wie der Besuch in Toronto und die Ausstellung, möglich, durch innere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit abzuschließen.
Elaine findet ihr Katzenauge wieder. „Ich blicke in sie hinein, und ich sehe mein Leben, ganz.“ (S. 485)... vielleicht war das das Quäntchen, das den Abschluss, das Abhaken, die Befreiung möglich machte?
„Ganz“ im Sinne von VOLLSTÄNDIG oder im Sinne von HEIL?
Vielleicht in beiderlei Hinsicht. Weil sie es jetzt vollständig vor sich sieht und nicht mehr bruchstückhaft (Parallele: jedes einzelne Gemälde für sich war nur ein Bruchstück, die gesamte Ausstellung das Ganze), kann sie begreifen, verarbeiten und und können Wunden heilen.
In der Ausstellung kommen ihr plötzlich neue, bisher ungedachte Gedanken. Versöhnliche Gedanken. Sie erkennt ihr Rachebedürfnis, das sie Jahr um Jahr angetrieben hat und aus dem heraus zumindest die Bilder von Mrs. Smeath entstanden sind. „Ich wollte nur Rache. Auge um Auge führt nur zu noch mehr Blindheit.“ (S. 492)
Sie kann ihre Bilder nun aus einer gewissen Distanz betrachten, was ihr die Möglichkeit einer endgültigen Verarbeitung bietet. Als sie sie malte, war die noch mittendrin, mit dem Malen der Bilder fertigte sie Erinnerungsfetzen, Bruchstücke, Fragmente ihres Lebens. Das waren erste Schritte zur BEarbeitung.
Die Ausstellung schließlich kommt mir vor wie das fertige Bild aus vielen einzelnen Puzzleteilen. Aus eben diesen Bruchstücken und Fragmenten.
Ihr Leben breitet sich vor ihr aus, als sie die Ausstellung betrachtet.
Keine Fragmente mehr, sondern ihr GANZES Leben. Dadurch, dass sie es als Ganzes und aus der Distanz wahrnimmt, kann sie sich erinnern, klarer sehen und das Vergangene überwinden und abhaken.
Oder etwa nicht? Ist alles anders als ich vermute? Kommt der große Show down? Atwood baut ein Spannungsmoment ein:
Elaine überlegt, alles in Brand zu stecken „weil ich die Kontrolle verloren habe über diese Bilder...“(S. 498)
„Ich hätte nicht hierherkommen sollen, in diese Stadt, die mich verfolgt.“(S. 499)
Aber nein, es war ein kurzes Zögern auf dem Weg „zum Ziel“
Elaine und wir warteten gespannt darauf, ob Cordelia zur Ausstellung kommen und ihr beantworten wird, warum sie damals so grausam war.
Nein, Cordelia kam nicht konkret, aber in Elaines Phantasie.
Und das war m. E. ein Kunstgriff der Autorin.
Mit einem konkreten Besuch Cordelias hätte wahrscheinlich alles nicht so gut enden können. Denn durch den Gefühle und körperliche Reaktionen auslösenden phantasierten Besuch hat Cordelia eine Erkenntnis: „da ist dieselbe Scham, die Übelkeit in meinem Körper, das selbe Wissen um meine Fehler, meine Ungeschicklichkeit, Schwäche; ...“ (S. 507)
Sie erkennt, dass all ihre Gefühle damals ursprünglich Cordelias Gefühle waren, die sie hatte, weil diese in einer ähnlichen Macht-Ohnmacht-Konstellation steckte, wie Elaine selbst.
Jetzt hat Elaine ihren Frieden. Sie hat es überwunden.
Die Vergangenheit ist vorbei. Die Wunden sind verheilt.
Im Flugzeug, das sie nach Hause bringt, wird durch die Beobachtung der beiden alten Freundinnen klar:
Da ist kein Schmerz mehr, nur noch ein bisschen Wehmut darüber, dass sie beide, also Cordelia und Elaine niemals so zusammensitzen würden. (S. 509).
Stephens Ermordung im Flugzeug durch die Terroristen war für mich wie ein Showeffekt, der mich „beleben“, da erschüttern, konnte.
Vielleicht soll der Tod ihrer Familie zugespitzt darauf hinweisen: das Alte und Vergangene ist vorbei. Etwas Neues kann beginnen.
(Wobei ja weniger das konkrete Äußere, als das Innere eine Rolle spielt, wenn es um‘s Verarbeiten und Überwinden geht. Aber wer weiß, vllt. hat es diese Bedeutung?)
Ich würde mich sooo gern mit Margaret Atwood über ihren Roman austauschen
;-) )