Rezension Rezension (5/5*) zu Der Archivar der Welt Roman von Lia Tilon.

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Archivar der Welt Roman von Lia Tilon
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Beeindruckend!

Ein Mann, eine Vision – so in etwa könnte man den Inhalt von „Der Archivar der Welt“ von Lia Tilon (erschienen im September 2019 bei DTV) „runterbrechen“.

Jedoch würde das dem (zum Teil) auf Tatsachen beruhenden Roman (O-Ton Lia Tilon: „[…], ich habe die Fakten benutzt, um Fiktion schreiben zu können.“ (S. 252)) in keinster Weise gerecht werden – ist er doch so viel mehr.

Es ist auf der einen Seite die Geschichte einer „ungewöhnlichen“ Freundschaft zwischen dem französischen Bankier Albert Kahn und seinem Chauffeur Alfred Dutertre

„Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Mann wie ich mehr tut als nur fahren; ein wirklich guter Chauffeur führt seinen Dienstherrn in die richtige Richtung. […] Es ist meine Aufgabe, ihn sicher an sein Ziel zu bringen.“ (S. 9)

und auf der anderen Seite die Geschichte des „Archivs des Planeten“ – einer Idee Albert Kahns. Damit wollte er „[…] dauerhaft Aspekte, Praktiken und Ausprägungen menschlicher Aktivität […] dokumentieren, deren endgültiges Verschwinden nur noch eine Frage der Zeit ist.“ Albert Kahn, Januar 1912 (S. 270)

Die in der Zeit von 1909 bis 1931 entsandten Fotografen (durch Stipendien von Kahn finanziert) haben weltweit insgesamt über 70.000 Fotografien erstellt und so ein einzigartiges Gedächtnis der Welt hinterlassen, die es spätestens nach den zwei Weltkriegen in der Form nicht mehr gab.

Der Roman besteht aus Tagebucheinträgen Dutertre´s, durch welche die Leserschaft unmittelbar mit „auf Reise“ genommen wird; sie vermitteln trotz teilweise kurzer Sätze, aber auch ausführlicheren Beschreibungen wie der japanischen Teezeremonie (eine meiner Lieblingspassagen im Buch! *g*) ein authentisches Bild von Reisebedingungen und den Aufenthalten in u. a. Japan und China, lassen Dutertre´s Selbstzweifel an seiner Kompetenz als Fotograf, aber auch an dem Projekt selbst erkennen. Trotzdem lässt er seinen Chef nicht im Stich – was zum nächsten Handlungsstrang führt: hier geht es um die letzten Tage von Albert Kahn mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Dutertre bleibt bis zum Schluss bei ihm, kümmert sich aufopferungsvoll um Kahn und seine Vision – großartig geschrieben in zum Teil äußerst bildhafter Sprache!

Darüber hinaus ist der Roman eine Hommage an die künstlerisch wertvolle Fotografie mit einer „echten“ Kamera – in Zeiten, in denen täglich mehrere Milliarden Fotos aufgenommen, verbreitet, geteilt, geliked und gelöscht werden, bedarf es ab und an solch eines Blickes auf die Vergangenheit *g* - wie gut, dass es Archive gibt, in denen die Zeugnisse dieser Zeit verwahrt werden!

Im Anhang lässt die Autorin das Gelesene mithilfe von Farbtafeln authentisch werden und liefert gleich noch ein umfangreiches Quellenverzeichnis mit – ein zusätzlicher Pluspunkt!

Lia Tilon hat mit „Der Archivar der Welt“ einen wunderbaren, zum Nachdenken anregenden und lehrreichen Roman veröffentlicht, der mich veranlasst, das Wirken von Albert Kahn (1860 bis 1940) weiter zu verfolgen und der Sammlung Albert Kahns einmal einen Besuch abzustatten.

Klare Leseempfehlung und somit 5* wert!

„Denn solange die Menschen die gleiche Sprache sprechen, haben wir die Möglichkeit, Ideen auszutauschen, auch wenn sie sich vollkommen von unseren Vorstellungen unterscheiden.“ (S. 245)

©kingofmusic


 

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