Rezension Rezension (5/5*) zu Stille Havel: Kriminalroman von Tim Pieper.

KaratekaDD

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13. April 2014
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Neustrelitz
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Buchinformationen und Rezensionen zu Stille Havel: Kriminalroman von Tim Pieper
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Die Großmutter

Wann habe ich das letzte Mal an einer Leserunde teilgenommen? Es wird wohl der dritte Havelkrimi von Tim Pieper gewesen sein. Tim Pieper sagt, dass es meine siebente Leserunde mit ihm gewesen ist. Das wird stimmen und seit der Leserunde zum Minnesänger sind bereits neun Jahre vergangen.

Nun also der sechste Sanftleben-Roman, oder der vierte um den Kriminalhauptkommissar Toni Sanftleben, Ururenkel von Otto...

Die Geschichte

Es liegt ein Toter da im Park Sanssouci, dessen Kopf weißt eine tödliche Wunde auf, die von einem stumpfen Gegenstand stammen könnte, das war ein Mord. Der Mann, so stellt sich heraus, war Kunstsachverständiger. In einem Museum hängt ein Bild, auf dem ist eine schwarz gekleidete, verschleierte Frau, gemalt von einem der bekanntesten Maler aus den USA in der Mitte der sechziger Jahre. Der Mann interessierte sich noch für mehr, zum Beispiel für eine Villa auf der Havelinsel Schwanenwerder. In dieser wohnt Marie, deren Großmutter gerade verstorben ist, zu ihrem Vater hat sie keinen weiteren Kontakt. Auch dessen Fabrik stand im Fokus des Kunstsachverständigen.

Nach und nach bekommen wir als Leser, meist schneller als der KHK, aufgrund der Rückblenden ein neues Puzzleteil in die Hand. Wir lernen eine junge Schauspielelevin kennen, die im Jahr 1921 geboren ist, bei den Hiller-Girls engagiert war und für ihre Schauspielkarriere an einem Mann im Reiche nicht vorbei kommt. Der Mann ist Doktor der Philosophie und Reichspropagandaminister. Am Ende des Krieges wird die junge Lydia Riefenberg nach Schweden geschickt ...

Mehr zu verraten geht hier indes nicht...

Das Buch

Tim Pieper, das erwähnte ich in der Rezension zu Dunkle Havel schon einmal, hat eine eigene, eine „piepersche“ Methode entwickelt, den Leser bei der Stange zu halten. Vielen Teilnehmerinnen der Leserunde (und mir) sind die Hauptcharaktere seit Jahren bekannt und so ist es die Art und Weise, wie der Stoff vorangetrieben wird, was zum Beispiel mich fasziniert. Der Autor erzählt neben der fiktiven Handlung immer Wahres aus jüngerer oder weit zurückliegender Vergangenheit. Hier sind es die UFA, Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Schauspieler, die Zeit des Nationalsozialismus und dessen Untergang, gekoppelt mit einer Reihe von Geheimnissen, die er erst zum Schluss immer weiter aufblättert.

Ebenso verleitete er mich wiederholt, ständig zu goggeln und so stieß ich auf manche Information zum Beispiel Schwanenwerder mit dem ehemaligen Goebbelsanwesen oder dessen Haus am Bogensee, wo später die Jugendhochschule der FDJ gebaut wurde. Ich fand einen Film im Netz*, in dem ein Bewohner von Schwanenwerder aus der Kindheit erzählte und seiner Freundschaft zu Helmut Goebbels...

Zu googeln waren aber auch viele Schauspielerinnen und Schauspieler, Sängierinnen und Sänger und nicht zuletzt die Hiller-Girls.

Hinzu kommen die Lost Places, die bereits in der Kalten Havel eine Rolle spielten und die zu besuchen der Autor einlädt. Für die Handlung des Romans eher nebensächlich, aber die Spannung kommt eben vielseitig daher.

Mit den Figuren ist das eher unterschiedlich. Wer die Havel-Romane kennt, weiß, woran dieser Toni Sanftleben fast zerbrochen wäre, warum er Polizist wurde und seine Alkoholkrankheit wird anders wahrgenommen, eben nicht als die sonst übliche Macke aller möglichen Kriminalpolizisten in Büchern und Filmen. Seine Kollegin Gesa bleibt dabei etwas blass, der IT-Spezialist Phong dagegen scheint wiederum so ein Fall von "Modepolizist" mit seinen Fress-Attacken zu sein. Ich warte immer auf einen Polizisten, der nebenbei Bücher schreibt, Fotoausstellungen oder Musik macht. Ich hätte da eine Bundespolizistin, die die Lost Places, in die uns Tim schickt, edel in Szene setzen würde.

Dafür haben wir eine tolle Staatsanwältin (als Gegenpart zum dämlichen Chef), die bewegende Lebensgeschichte einer UFA-Schauspielerin und deren sympathische Enkelin.

In der heutigen Zeit dürfte es nicht leicht sein, unvoreingenommen zum Beispiel über die Familie Goeebels zu schreiben. Die Rolle der Lydia im Hause Goebbels, die Beziehung zu Magda Goebbels und den Kindern, war ein sehr gut erzählter Teil. Man ist immer geneigt, bei den Nazis die Menschen außer acht zu lassen und sollte gelegentlich an Hanna Arendts "Banalität des Bösen" zu denken. Das Böse hier ist der unbeschrieben gebliebene Mord an den Kindern des vorletzten Reichskanzlers. Ich musste beim Lesen an Corinna Harfouch denken, die in DER UNTERGANG die Ehefrau des vorletzten Reichskanzlers spielte und die einmal erzählte, dass die Szene, in der die Kinder die Todespillen bekommen, an sich nicht zu spielen war.

* * *

Dieser Roman gefiel mir wieder ausnehmend gut, das war nicht immer der Fall bei den Havel-Büchern, obwohl ich jedem „Fall Sanftleben“ entgegen fiebere und gern wieder was Historisches mit Otto erleben würde, der wenigstens wieder erwähnt wurde. In diesem Zusammenhang verweise ich auf Mord im Tiergarten und Unter den Linden.

Der Bücherjunge alias Karateka DD