Rezension Rezension (5/5*) zu Der Archivar der Welt Roman von Lia Tilon.

ElisabethBulitta

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8. November 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Archivar der Welt Roman von Lia Tilon
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Les Archives de la Planète

Wir schreiben das Jahr 1940. Albert Kahn (1860 bis 1940), verarmter französischer Bankier und einst einer der reichsten Männer Europas, liegt im Sterben. An seiner Seite: sein Freund und Chauffeur Alfred Dutertre. Gemeinsam lassen die beiden Männer anhand von Fotografien und Tagebucheinträgen ihr Leben Revue passieren. Erschienen ist Lia Tilons 272-seitiger Roman „Der Archivar der Welt“ über eine ungewöhnliche Männerfreundschaft und gewaltige Mission im September 2019 bei dtv.
Albert Kahn ist ein vielseitig interessierter Mensch. Mit Verbreitung der Fotografie und Entwicklung des Autochromverfahrens, also der farbigen Fotografie, entwickelt sich in ihm eine Vision: Anhand dieser technischen Neuerungen möchte er ein „Archiv des Planeten“ erstellen, eine Sammlung von Bilddokumenten mit dem Ziel, traditionelle Lebensweisen zu bewahren, die Welt den Menschen näher zu bringen und so einen Beitrag für den Frieden zu leisten. Die Aufgabe des Fotografierens überlässt er vor allem seinem Chauffeur, Dutertre, mit dem er gemeinsam die Welt bereist, um am Ende auf eine beachtliche Sammlung von über 72.000 Aufnahmen zurückschauen zu können, die auch heute noch im „Musée départemental Albert-Kahn“ nahe Paris zugänglich ist. Die Bildtafeln am Ende des Buches vermitteln ein beeindruckendes Bild von der Arbeit dieser beiden Männer und lassen das Gelesene lebendig werden.
Die Geschichte dieser beiden Männer wird auf zwei Ebenen erzählt: Die Rahmenhandlung bilden die letzten Lebenstage Albert Kahns zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Alfred Dutertre kümmert sich uneigennützig um den Sterbenden, gräbt immer wieder im Archiv und somit in gemeinsamen Erinnerungen. Hierbei blicken Leserinnen und Leser zurück auf die Geschichte dieser beiden Männer sowie die der Fotografie, unternehmen mit dem Chauffeur zusammen eine Reise in glanzvollere Zeiten und erfahren Wissenswertes über Kahns Motivation, seine Lebenswerk in Angriff zu nehmen.
Unterbrochen wird diese Rahmenhandlung immer wieder durch Dutertres Tagebucheinträge aus den Jahren 1908/09. Gemeinsam mit den Protagonisten reisen die Leser/innen in die USA, nach Japan und China. Neben Einblicken in den Reisealltag zur damaligen Zeit enthalten diese Abschnitte auch teils wunderschöne Beschreibungen von Land und Leuten.
Gut gewählt und gleichzeitig bedrückend ist, dass das "Archiv des Planeten" eine friedensstiftende Aktion sein sollte, und gerade jetzt vor dem Hintergrund des wohl grausamsten Krieges, den Europa und die Welt durchleben mussten, resümiert wird. Dieses bietet reichlich Stoff zum Nachdenken – für mich persönlich auch der Umstand, dass wir heute in einer Zeit leben, in der die Welt nicht nur dank der medialen Entwicklung näher zusammengerückt ist, wir aber von einem friedlichen Miteinander und Verständnis füreinander nach wie vor weit entfernt sind.
Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich unterscheiden sich die beiden Handlungsstränge voneinander: Sprachlich ist die Szenerie rund um Kahns Tod ansprechend, einzelne Szenen werden sehr ausführlich, bildhaft beschrieben, sodass man beim Lesen förmlich Bilder vor Augen hat. Auf der anderen Seite steht Dutertres Tagebuch: Zwar gibt es auch hier plastische Beschreibungen, aber die oft kürzeren Sätze, die wie Notizen "hingeworfen" sind, lassen den Text authentisch werden. Insgesamt lässt sich das Buch flüssig und atmosphärisch dicht lesen.
Alles in allem präsentiert Lia Tilon mit „Der Archivar der Welt“ ein gut lesbares und beeindruckendes zeitgeschichtliches Dokument von ungebrochener Aktualität, aus dem ich viel lernen konnte und das ich gerne zur Lektüre weiterempfehle.


 

Literaturhexle

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Da habe ich wohl wieder die falsche Leserunde ausgelassen.... So ist es manchmal ;). Im Grunde habe ich eine Abneigung gegen Road novels, dieser Roman geht aber wohl weit darüber hinaus.
Eine sehr schöne, einladende Rezension von dir, Elisabeth!