Rezension Rezension (4/5*) zu Der Revolver von Fuminori Nakamura.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Revolver von Fuminori Nakamura
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Die unerträgliche Leere des Seins

Die Handlung:

Nishikawa lässt sich treiben: Studium hier, bedeutungslose Bettgeschichten da. Koffein in rauen Mengen, obwohl er nichts hat, wofür er wirklich Energie bräuchte. Nirgendwo eine echte Leidenschaft, nicht einmal ein Hobby oder ein Haustier, nichts also, was seinem Leben Bedeutung schenken könnte. Seine Gefühle sind bestenfalls lauwarm, echte Intensität ist ihm fremd.

Sein Leben ist leer. So unerträglich leer, dass ein Vakuum entsteht – und damit ein unbezähmbarer Zwang, diese Leere zu füllen.

Der Nährboden für eine Sucht ist gegeben. Diese Sucht könnte die verschiedensten Erscheinungsformen annehmen: eine Sekte, ein Onlinespiel, Alkohol, Drogen, das Deep Web, Pornographie… Aber dann findet er eine Leiche – und daneben den Revolver. Dass er ihn mitnimmt und eine intensive Obsession dafür entwickelt, ist quasi unvermeidlich.

Der Hauptcharakter:

Sympathisch ist Nishikawa nicht. So denkt er zum Beispiel mehrmals sehr abfällig über das Aussehen von Frauen, mit denen er dann doch ins Bett geht. (Eine davon bekommt im ganzen Buch keinen Namen, weil er sich nie die Mühe macht, sie danach zu fragen.) Überhaupt zeigt sich auch in seinen negativen Eigenschaften keinerlei Antrieb, es handelt sich vielmehr um eine selbstsüchtige Trägheit. Abgesehen von dieser Trägheit ist er ein Mann ohne Eigenschaften – wenig mehr als eine Projektionsfläche.

Warum, fragte ich mich mehrmals, will ich das lesen?

Denn lesen wollte ich es, als würde auch ich aufgesaugt von diesem Vakuum, dieser kaum auszuhaltenden Sinnentleertheit. Ich suchte in den Seiten nach Sinn, wartete auf eine Wandlung Nishikawas zum Besseren – oder zumindest auf ein Erwachen aus der Gedankenlosigkeit. Dass letzteres passieren würde, erschien mir tatsächlich unausweichlich, die Frage war nur, wo es enden würde: in einem neuen, geläuterten Leben oder in der Katastrophe.

Denn im Revolver sind noch vier Patronen, und Nishikawa ist mehr und mehr besessen von dem Wunsch, ihn zu benutzen.

Seine Passivität wird aufgebrochen von seinen ständigen Gedanken an den Revolver und die Möglichkeiten, die er eröffnet. Es liest sich zum Teil jedoch fast so, als sei es der Revolver, der denkt und fühlt und nach einer Gewalttat giert, nicht Nishikawa. Wer ist der Ursprung der Gewaltfantasien, Mensch oder Waffe?

Es bleibt offen, ob Nishikawa sich seine eigenen Abgründe nicht eingestehen will oder schlichtweg nicht die Willensstärke hat, sich dieser Sucht zu widersetzen. So oder so sinkt seine Hemmschwelle, was Gewalt betrifft; mit dem Revolver verbindet er hingegen bis dato ungekannte Glücksgefühle.

„Der Revolver war unverändert schön. Atemberaubend schön. Das Mädchen, mit dem ich geschlafen hatte, konnte da nicht mithalten. Der Revolver bedeutete mir alles, und so würde es auch in Zukunft bleiben.“
(Zitat)

Der Spannungsbogen:

In manchen Passagen konnte ich mich kaum einmal von den Seiten lösen, andere wirkten auf mich etwas schwach: nicht ganz schlüssig, nicht konsequent konstruiert. Zwischendurch dachte ich mir, dass die Handlung als Kurzgeschichte möglicherweise besser funktionieren würde; alternativ hätte ich mir gewünscht, dass der Autor in manchen Dingen mehr in die Tiefe geht.

Obwohl es eine Leiche, einen Revolver und einen ermittelnden Kommissar gibt, der den Protagonisten schnell ins Visier nimmt, ist dieses Buch in meinen Augen kein Krimi, sondern eher ein Drama.

Die Spannung ergibt sich nicht aus der Frage, wer der Mörder war, sondern daraus, dass man Nishikawa dabei beobachtet, wie er immer weiter in den Abgrund steigt und sich fragt, ob und wann er endgültig den Halt verlieren wird.

Der Kommissar ist übrigens ein großartiger Nebencharakter, der für mich deutlich mehr Persönlichkeit zeigt als Nishikawa – ich habe das Buch im Rahmen einer Leserunde gelesen, und zwei von uns fühlten sich an Inspektor Columbo erinnert.

Die Bedeutung:

Sinnsuche in der modernen Welt? Die Entwicklung einer Sucht und der Versuch, sich davon zu befreien? Die Unverzichtbarkeit zwischenmenschlicher Interaktion für die seelische Gesundheit?

Der Leser kann einiges als Leitmotiv in die Geschichte hineininterpretieren. Ich hätte mir jedoch gewünscht, dass der Autor seinem Antihelden ein etwas klareres Profil gibt, dass er ihn und den Leser nicht ganz so haltlos durch die Geschichte stürzen lässt.

Der Schreibstil:

Der Autor schreibt prägnant, knapp, oft beinahe nüchtern, und dennoch beschwören seine Worte sehr eindringlich den Abstieg in den Wahn.

Fazit:

Der Student Nishikawa findet einen Toten – vor allem findet er jedoch den Revolver, der für dessen Ableben verantwortlich ist. Er nimmt die Waffe mit und denkt fortan beinahe ausschließlich an sie. Studium, Alkohol, Sex, alles wird bedeutungslos. Immer öfter drehen sich seine Gedanken stattdessen um die vier Patronen, die die noch im Magazin stecken. Wer hätte den Tod verdient?

Auf nur 192 Seiten beschreibt Fuminori Nakamura die Geschichte einer verheerenden Obsession. Das ist kein Krimi, sondern eher eine psychologische Charakterstudie, die meines Erachtens durchaus Schwächen hat, sich aber dennoch schnell und unterhaltsam liest.

von: Beate Sauer
von: Christian Jaschinski
von: Margot Jung
 
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