1. Leseabschnitt: Vorher (Beginn bis S. 49)

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.176
49
Ich wage mal eine kurze Zusammenfassung des Abschnitts "Vorher":

Interessant ist es zunächst einmal, dass wir es mit historischen Figuren zu tun haben. Das lädt zum Recherchieren ein ;)
Gustav Meyrink sitzt mit drei weiteren Spiritisten in seinem Haus zusammen. Gemeinsam und unter Meyrinks Leitung will man Kontakt mit dem Jenseits aufnehmen. Da klopft es vehement an die Tür. Ein Bote überbringt ein Schreiben des Auswärtigen Amtes, in dem ihm das Angebot unterbreitet wird, einen Auftragsroman zu schreiben, der die Schuldfrage am ersten Weltkrieg behandeln soll. Der Autor erbittet sich Bedenkzeit.

Im Café Luitpold, anscheinend ein beliebter Treffpunkt der Münchner Autorenwelt, begegnet er Erich Mühsam, der offenbar knapp bei Kasse ist. Als Gegenleistung für ein warmes Mittagessen gibt er Meyrink Tipps für das geplante Buch. Er solle die Juden für den Krieg verantwortlich machen. Das sei sehr glaubwürdig, zumal Meyrink ja selbst schon für einen gehalten worden sei.
Anschließend gehen die beiden zu einer revolutionären Versammlung, deren Sprecher der Sozialdemokrat Kurt Eisner ist, der zum Generalstreik aufrufen will. Hier soll Meyrink Inspirationen sammeln.
Eine vorhergehende Rede Eisners vom 27.01.1918 wird dokumentiert, in dem sein Gegenspieler Polizeiassistent Rauh war. (Dieser Einschub macht für mich auch noch keinen Sinn).

Mit der Bahn fährt Meyrink heim. In seinen Gedanken bezeichnet er sich selbst als völlig unpolitischen Menschen: "Patriotismus ist ihm ein Fremdwort, Vaterland sagt ihm nichts."

Mit seiner Frau Mena bespricht er das Angebot. Sie ist eher zurückhaltend, möchte darauf vertrauen, dass ihm bald neue Ideen kommen, die das finanzielle Auskommen sichern. Er selbst ist pessimistisch, die laufenden Einnahmen sind eher gering. Er sieht einen wirtschaftlichen Zwang. Offensichtlich war er zuvor mit einer Hedwig verheiratet, die ihn jedoch erst aufgab, als er vom Meyer zum Meyrink mutierte und Schriftsteller wurde. Endlich konnte er sich mit der heimlichen Verlobten Mena zusammentun.
Wenn er den Auftrag annimmt, muss er nach Berlin zum Amt fahren, um die Details zum Auftrag zu erfahren.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.176
49
Der Schreibstil ist sehr angenehm und wie mir scheint an die Sprache angepasst, die 1918 gesprochen wurde. Die Einstiegsszene und ihre Dialoge waren sehr amüsant.
Die einzelnen Kapitel werden von sogenannten "Recherchenotizen" durchbrochen, deren Inhalt sehr unterschiedlich ist. Sie machen einen authentischen Eindruck und handeln von den Figuren, die im vorhergehenden Kapitel eine Rolle spielten. So recht kann ich mir noch keinen Reim darauf machen. Die Kapitel wirken auf mich noch sehr sprunghaft. Abgesehen vom Auftrag fehlt mir noch der Rote Faden.

Weiter geht es mit dem Abschnitt "Anfang".
 

ElisabethBulitta

Bekanntes Mitglied
8. November 2018
1.316
2.369
49
52
Die Kapitel wirken auf mich noch sehr sprunghaft. Abgesehen vom Auftrag fehlt mir noch der Rote Faden.

Mit der Sprunghaftigkeit kämpfe ich auch ein wenig, wobei ich an sich das Buch gerne lese. Nur braucht es eben gerade aufgrund dessen ein wenig Konzentration, die ich momentan nicht so ganz aufbringe. Aber ich finde, es passt unheimlich gut zu der Figur Meyrink (wie er in diesem Buch dargestellt ist), über den ich, ehrlich gesagt, nicht besonders viel weiß. Er scheint mir auch ein wenig "entrückt" von dieser Welt zu sein. Er beschäftigt sich mich Okkultismus, weiß aber, dass er einfach nur Humbug treibt. Die Séance gleich zu Beginn ist köstlich zu lesen: "Der Einzige, der hier klopfen darf - und zu gegebener Zeit auch klopfen wird -, bin ich, und ich habe nicht geklopft." (S. 11) Da hätte ich mich schon wegschmeißen können vor Lachen. Er geht (mehr oder weniger gewungen) zu politischen Versammlungen, steht aber irgendwie auf keiner Seite. Er ist in finanziellen Nöten (wobei ich mir da noch nicht so sicher bin, wie tiefgreifend sie sind, denn er scheint ja doch Luxusgüter zu besitzen, auf die er einfach nicht verzichten will), nimmt aber nichts wirklich in Angriff. Mit der Realität will er eigentlich nichts zu tun haben, aber unter anderem ist es der "Kindermund" seiner eigenen Kinder, der Wahrheit kund tut und somit die Realität ins Haus holt. Ein bisschen "schockierend" ist, dass es ihm eigentlich egal ist, wem die Schuld für den Ersten WK zugeschoben wird, wenn nur das "Geld im Beutel klingelt". Das wirft irgendwie kein wirklich gutes Bild auf ihn. Interessant finde ich seine Gedanken zu Eisner: Dieser ist Sozialdemokrat, lebt aber im Villenviertel (also wohl nicht schlecht). Hier wird m.E. auch schon ein noch heute geltender Gegensatz deutlich: Politiker, die etwas Handfestes wollen, aber doch auch irgendwo "abgehoben" sind. Aber um ehrlich zu sein: Von den Zuständen in Bayern habe ich da nicht so viel Ahnung.
Außerdem passt auch zur Sprunghaftigkeit, dass Meyrink seine eigene Vergangenheit durcheinanderbringt oder schönredet ... wie immer man das nennen will.

Dass die Sprache wirklich an das Jahr 1918 angepasst ist, bezweifle ich persönlich. Höchstens an die Sprache bestimmter Schichten. Aber jedenfalls ist sie sehr angenehm zu lesen und voller (Wort-)Witz: "Mühsam ist sein Name, mühsam ist sein Leben." (S. 22) - auch einfach genial.
 

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.068
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Die einzelnen Kapitel werden von sogenannten "Recherchenotizen" durchbrochen, deren Inhalt sehr unterschiedlich ist.
Ich habe das so verstanden, dass diese tatsächlich authentisch sind und das widerspiegeln, was Poschenrieder zur Person Meyrink in Erfahrung gebracht hat. Damit lässt er uns fiktiv am Schreibprozess teilhaben. Der Roman erzählt einerseits die Geschichte des "unmoralischen" Angebotes an Meyrink und gibt auch Einblicke in die historischen Quellen und damit in die Arbeit des Autors selbst. Das ist mir in der Art und Weise noch nicht begegnet - ähnlich nur in "Lincoln im Bardo", in dem ja auch historische Quellen eingefügt wurden.
 

Circlestones Books Blog

Bekanntes Mitglied
28. Oktober 2018
1.411
4.439
49
72
Wienerin auf Rügen
www.circlestonesbooks.blog
Ich habe das so verstanden, dass diese tatsächlich authentisch sind und das widerspiegeln, was Poschenrieder zur Person Meyrink in Erfahrung gebracht hat. Damit lässt er uns fiktiv am Schreibprozess teilhaben. Der Roman erzählt einerseits die Geschichte des "unmoralischen" Angebotes an Meyrink und gibt auch Einblicke in die historischen Quellen und damit in die Arbeit des Autors selbst. Das ist mir in der Art und Weise noch nicht begegnet - ähnlich nur in "Lincoln im Bardo", in dem ja auch historische Quellen eingefügt wurden.
Mit gefällt die Idee sehr gut, das Fiktive mit den Tatsachen zu verknüpfen, indem unter "Recherchenotizen" Originalzitate aus den begleitend verwendeten Quellen aufgelistet sind. Für mich ein sehr gelungender Übergang.
 

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Ich habe das so verstanden, dass diese tatsächlich authentisch sind und das widerspiegeln, was Poschenrieder zur Person Meyrink in Erfahrung gebracht hat. Damit lässt er uns fiktiv am Schreibprozess teilhaben. Der Roman erzählt einerseits die Geschichte des "unmoralischen" Angebotes an Meyrink und gibt auch Einblicke in die historischen Quellen und damit in die Arbeit des Autors selbst. Das ist mir in der Art und Weise noch nicht begegnet - ähnlich nur in "Lincoln im Bardo", in dem ja auch historische Quellen eingefügt wurden.

Ich muss sagen, dass mir das auch sehr gut gefällt, zu sehen, wie der Autor selbst arbeitet. (oder zumindest, dass dieser Eindruck erweckt wird...)
 
Zuletzt bearbeitet:

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Dass die Sprache wirklich an das Jahr 1918 angepasst ist, bezweifle ich persönlich. Höchstens an die Sprache bestimmter Schichten. Aber jedenfalls ist sie sehr angenehm zu lesen und voller (Wort-)Witz: "Mühsam ist sein Name, mühsam ist sein Leben." (S. 22) - auch einfach genial.

ja, und auch eben die schon erwähnte Stelle mit dem Klopfen, da kommt schon eine feine zynische Note durch.

Was mir zur Sprache zur damaligen Zeit aufgefallen (und auch aufgestoßen ist): In dem Tagebucheintrag Eisners aus der Haft nennt er seine Frau "das Elslein" und sie in weiterer Folge "es".
Das finde ich persönlich befremdlich.
 
  • Stimme zu
Reaktionen: Querleserin

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Fake News und Alternative Fakten sind keine erfindung der sozialen Medien, das gab es immer schon, hat halt nur etwas länger gedauert.

Eine bemerkenswerte Stelle im ersten Abschnitt war - finde ich - als Meyrink, darüber sinniert, woher ein Schriftsteller "eine besondere Eignung zur Einmischung in das politische Tagesgeschäft nehmen soll..." Schlauer, gebildeter, moralischer... (Seite 37)
Das passt doch bestens auch in die heutige Zeit, ist mit der Handke Debatte doch ganz aktuell.

Oder wie Meyrink sagt: "...Ich habe eine schöne Erinnerung daran, also muss es wahr sein.." (Seite 43) das zeigt so schön wie Erinnerung, Wahrnehmung und Wahrheit immer im Auge des Betrachters liegen.
 

ElisabethBulitta

Bekanntes Mitglied
8. November 2018
1.316
2.369
49
52
Oder wie Meyrink sagt: "...Ich habe eine schöne Erinnerung daran, also muss es wahr sein.." (Seite 43) das zeigt so schön wie Erinnerung, Wahrnehmung und Wahrheit immer im Auge des Betrachters liegen.

Das ist so eine Bemrkung, an der ich immer irgendwie Naivität festmache. Oder meinetwegen auch Entrücktheit von der Welt. Klar, (unsere) Wahnehmug ist oft subjektiv. Das ist klar. Aber diese Schönmalerei der Vergangenheit. Und eben auch der, m.E., unüberlegte Umgang mit dem Wort "wahr" bzw. "Wahrheit".
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.245
18.662
49
48
Ich wage mal eine kurze Zusammenfassung des Abschnitts "Vorher":

Interessant ist es zunächst einmal, dass wir es mit historischen Figuren zu tun haben. Das lädt zum Recherchieren ein ;)
Gustav Meyrink sitzt mit drei weiteren Spiritisten in seinem Haus zusammen. Gemeinsam und unter Meyrinks Leitung will man Kontakt mit dem Jenseits aufnehmen. Da klopft es vehement an die Tür. Ein Bote überbringt ein Schreiben des Auswärtigen Amtes, in dem ihm das Angebot unterbreitet wird, einen Auftragsroman zu schreiben, der die Schuldfrage am ersten Weltkrieg behandeln soll. Der Autor erbittet sich Bedenkzeit.

Im Café Luitpold, anscheinend ein beliebter Treffpunkt der Münchner Autorenwelt, begegnet er Erich Mühsam, der offenbar knapp bei Kasse ist. Als Gegenleistung für ein warmes Mittagessen gibt er Meyrink Tipps für das geplante Buch. Er solle die Juden für den Krieg verantwortlich machen. Das sei sehr glaubwürdig, zumal Meyrink ja selbst schon für einen gehalten worden sei.
Anschließend gehen die beiden zu einer revolutionären Versammlung, deren Sprecher der Sozialdemokrat Kurt Eisner ist, der zum Generalstreik aufrufen will. Hier soll Meyrink Inspirationen sammeln.
Eine vorhergehende Rede Eisners vom 27.01.1918 wird dokumentiert, in dem sein Gegenspieler Polizeiassistent Rauh war. (Dieser Einschub macht für mich auch noch keinen Sinn).

Mit der Bahn fährt Meyrink heim. In seinen Gedanken bezeichnet er sich selbst als völlig unpolitischen Menschen: "Patriotismus ist ihm ein Fremdwort, Vaterland sagt ihm nichts."

Mit seiner Frau Mena bespricht er das Angebot. Sie ist eher zurückhaltend, möchte darauf vertrauen, dass ihm bald neue Ideen kommen, die das finanzielle Auskommen sichern. Er selbst ist pessimistisch, die laufenden Einnahmen sind eher gering. Er sieht einen wirtschaftlichen Zwang. Offensichtlich war er zuvor mit einer Hedwig verheiratet, die ihn jedoch erst aufgab, als er vom Meyer zum Meyrink mutierte und Schriftsteller wurde. Endlich konnte er sich mit der heimlichen Verlobten Mena zusammentun.
Wenn er den Auftrag annimmt, muss er nach Berlin zum Amt fahren, um die Details zum Auftrag zu erfahren.
Vielleicht soll mit dem Hinweis auf die Rede Eisners die Brücke geschlagen werden zu den Eintragungen im Gefängnistagebuch bzw. damit der Leser weiß, warum Eisner im Gefängnis war. Nicht jeder recherchiert bei oder nach dem Lesen. Aber gerade bei diesem Roman merke ich, dass es Sinn macht, nach gewissen Ereignissen oder Personen zu recherchieren.
 

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
5.835
7.675
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Der erste Abschnitt ließ sich zügig lesen, und auch ich mag es, wie ernste Themen oder auch Spitzen gegen Gesellschaft und Politik hier wie nebenbei präsentiert und teilweise humorvoll und mit einem Augenzwinkern verpackt werden. Meyrink selbst erscheint mir recht naiv, seine Frau ahnt schon das kommende Drama, ordnet sich aber seiner Meinung unter...
 

KrimiElse

Bekanntes Mitglied
26. Januar 2019
2.861
5.110
49
buchmafia.blogspot.com
Ich bin fast fertig mit dem ersten Abschnitt und sehr angetan von dem Buch.
Sprachlich gefällt mir ausgezeichnet, was ich lese - witzig und fast ein bisschen jüdische angehaucht erscheinen mir die Dialoge (obwohl Meyrink kein Jude gewesen ist aber vielleicht ist das auch seinem Hang zum Okkulten geschuldet)

Die Geschichte selbst ist höchst interessant, zumal Meyrink tatsächlich den Auftrag vom Auswärtigen Amt bekam, einen Roman zur Schuldfrage am Ersten Weltkrieg schreiben, es dann aber letztlich nicht tat, wie bei Wikipedia nachzulesen ist:
https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Meyrink
Ich lese viel quer, denn die Namen seines Umfeldes sind mir zwar ein Begriff, aber ich muss dennoch Details nachschlagen. Erich Mühsam, der anarchistisch angehauchte Schriftsteller, schleppt den doch recht bürgerlichen Meyrink zur revolutionären Rede von Kurt Eisner, der maßgeblich an der Gründung des Freistaates Bayern beteiligt und dessen erster Ministerpräsident war...
Meyrink hingegen hält sich durchaus fern von den Cafehausrevolutionären.

ich liebe solche Bücher, bei denen ich lese und nachlese, die wahre historische Begebenheiten benutzen, ein wenig dazu spinnen und den Zeitgeistvin damals einzufangen scheinen, auch wenn die Sprache nur auf den ersten Blick angestaubt wirkt. Toll!
 
Zuletzt bearbeitet: