Rezension Rezension (5/5*) zu HERKUNFT von Saša Stanišić.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu HERKUNFT von Saša Stanišić
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Der große Zufall, der sich Herkunft nennt

Sasa Stanisic hat für sein autobiografisches Buch „Herkunft“ in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis erhalten und mich aufgrund des so hochaktuellen Themas auch für dessen Lektüre eingenommen. Ich habe es nicht bereut.
Sasa kommt nach einer Jugend in einem ländlichen Teil Jugoslawiens im Jugendalter nach Deutschland, nachdem zu Hause ein Staat zusammengebrochen ist und sich ehemals Zusammengehörige grausam bekriegen. Seine Jugend verlebt er mit vielen Stigmata beschwert (zB Sprache, merkwürdige Häkchen im Namen, fehlender Wohlstand) in Heidelberg, wo eine Tankstelle zu seinem Lebensmittelpunkt wird. Stark damit beschäftigt, den Integrations- und Anpassungsprozess zu stemmen, verliert die Heimat für ihn immer mehr an Kontur und Bedeutung.

„Meine Rebellion war die Anpassung. Nicht an eine Erwartung, wie man in Deutschland als Migrant zu sein hat, aber auch nicht bewusst dagegen. Mein Widerstreben richtete sich gegen die Fetischisierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das Dazugehören.“

Er schafft mit viel Engagement dann nicht nur diese Integration, sondern wird – das wissen wir als seine Leser heute – zum herausragenden Literaten in einer ihm nicht von Geburt an eingegebenen Sprache. Dieser gewagte und gelungene Sprung in der Biografie des Autoren schwang bei der Lektüre für mich permanent mit und hat mir eine Menge Respekt abgerungen.

„Bevor ich den Friedhof von Oskorusa sah, hatte ich mir aus Herkunft im Sinne familiärer Abstammung nichts gemacht. Meine Großeltern waren einfach da.“

Doch irgendwann packt ihn dieses Thema irgendwann doch. Er reist zu seiner immer älter werdenden, in Bosnien zurückgebliebenen Familie und versucht nun, weitestgehend zu spät, die Familienbanden zu ergründen. Da ist vor allem die dement werdende Großmutter, die ihm wegen ihrer Krankheit nur noch unzureichend bei der Ergründung der Vergangenheit behilflich sein kann.
Und so wird aus dem Buch kein authentischer Bericht über eine Reise in die eigene Vergangenheit, sondern es bleibt immer und an jeder Stelle Fiktion,

„Fiktion, wie ich sie mir denke, …, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt –„

auch wenn es dem Autoren hier deutlich schwer fällt, die persönliche Distanz immer einzuhalten. Aber was ihm nicht schwer fällt, ist grundlegendes Empfinden zum Thema Herkunft aus der Sicht eines aus der Heimat Vertriebenen und für eine neue Heimat Kämpfenden zu schildern. Die Heimat von Sasa Stanisic liegt irgendwo zwischen dem Friedhof von Oskorusa, einer dunklen Tankstelle in einem unschönen Heidelberger Vorort und der Sprache, in der er seine Gefühle und Stimmungen auszudrücken vermag.

„Dass ich diese Geschichte überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben.“

Mit seiner Geschichte und wie er sie aufschreibt entlarvt Stanisic Herkunft als etwas, was eben nicht von Blut und Boden durchdrungen ist. Es ist viel mehr das Ergebnis einerseits eines reinen Zufalls und andererseits einer aktiven Lebensgestaltung.

Mein Fazit:
Ein ungemein wichtiges und dabei gleichzeitig sowohl wortgewaltiges als auch empfindsames Buch über ein Thema, das heute bedauerlicherweise eine neue große Aktualität gewonnen hat.


 

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