Rezension Rezension (4/5*) zu Die Frau, die nicht alterte: Roman von Grégoire Delacourt.

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.442
49.883
49
Buchinformationen und Rezensionen zu Die Frau, die nicht alterte: Roman von Grégoire Delacourt
Kaufen >
Plädoyer gegen den Jugendwahn


Die Ich-Erzählerin Martine hat eine normale Kindheit. Allerdings verliert ihr Vater ein Bein im Algerienkrieg, über den er nie spricht: „Er verglaste sein Schweigen, verschloss es wie eine Verletzung.“ Darunter leidet die lebenslustige, bildschöne Mutter, die bei einem Autounfall tragisch ums Leben kommt:
„Sie hatte gerade erst ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert.
Ich hatte sie für unsterblich gehalten.
Mit dreizehn Jahren bin ich urplötzlich gealtert.“

Der Vater zieht sich nun völlig zurück, sein Herz erstarrt zu Eis, er sucht Flucht im Alkohol. Zum Glück errettet ihn Francoise, eine liebenswerte Verkäuferin, mit der er fortan sein Leben teilt und die auch für Martine eine liebevolle Gefährtin wird:
„Papa liebte sie, aber diese Liebe, das wurde mir nach und nach klar, war anders als das Verzehren, das ihn mit Maman verbunden hatte.“

Martine studiert in Paris und lernt den Zimmermann André kennen, der den Bauernhof seiner Eltern verlassen hat, um mit Holz zu arbeiten:
„Plötzlich war alles funkelnagelneu, unberührter Schnee, ich hatte ein Feuer gefunden, mit dem ich nie wieder frieren würde, und ich fing an zu lachen, das Lachen eines Neugeborenen, eine Offenbarung.“
Martine hat das Lebensgefühl ihrer Zeit, sie tauscht ihren Vornamen in Betty, weil das „richtig stilvoll“ klingt. Mit einundzwanzig Jahren wird sie Grundschullehrerin und heiratet André. Sie bekommen einen Sohn, Sebastién. André ist oft auf Reisen, um andere Holzarten kennenzulernen und sich weiterzubilden. Das tut der Liebe der beiden aber keinen Abbruch.

Betty freundet sich mit der Parfümerieverkäuferin Odette an, deren Freund Portraitfotograf ist. Er arbeitet an einem Fotoprojekt über den Alterungsprozess von Frauen. Jedes Jahr schießt er eine identische Aufnahme. Betty fotografiert er erstmalig mit 30 Jahren. Sie hat die Schönheit ihrer Mutter geerbt und ist glücklich:
„Aber das Glück, das weiß jedes Kind, ist ein wunderlicher Gast. Es verlässt den Tisch ohne Vorwarnung, ohne Grund.“

Betty muss in den kommenden Jahren, belegt durch die Fotografien, feststellen, dass sie äußerlich nicht mehr altert. Was am Anfang durchaus reizvoll ist, entwickelt mehr und mehr eine eigene Dynamik, wird zur Pein. Ihr Mann hat Schwierigkeiten, sich mit einer so jungen Frau zu zeigen, die keinerlei Zeichen gelebten Lebens im Gesicht hat, ihr Sohn traut sich nicht, sie als seine Mutter vorzustellen, Arbeitgeber vermuten, gefälschte Papiere vorgelegt zu bekommen und so weiter. Schließlich hält sogar ihr dementer Vater sie auch noch für die verstorbene Mutter und will sie küssen.
Das alles ist sehr belastend für Betty. Während sie an ihrer immerwährenden Jugendlichkeit leidet, will ihre Freundin Odette dem eigenen Altern mithilfe von Kosmetika und Chirurgie ein Schnippchen schlagen:

„Die Schönheitschirurgie ist eine Droge, weckt endlose Hoffnungen, nach dem Gesicht die Lippen, nach den Lippen die Lider, nach den Lidern die Brüste, nach den Brüsten der Bauch, nach dem Bauch die Knie, und die Zeit verstreicht, und zum Zeitvertreib beginnt man wieder von vorn, man hält sich für immer jünger und schöner, immer perfekter, während die anderen einen für das Bild des Jammers halten.“

Der Autor verflechtet diese beiden Frauengeschichten sehr geschickt in seinem Roman, Streben nach ewiger Jugend ist ein Trend unserer Zeit. Beauty- und Wellness-Angebote prägen das Bild, die Suche nach der Unsterblichkeit hat schon die alten Alchimisten beschäftigt. Anhand von Bettys Leben wird nun das „Was wäre wenn…“, durchgespielt - mit all seinen Nachteilen und Verlusten, die es bringt. Zum Glück ist sie eine starke Frau, die in der Lage ist, auch Brüche zu verkraften und sich neu aufzustellen.

Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Delacourt hat eine einzigartige, poetische Sprache, die es vermag, auch Schweres leicht auszudrücken, ohne ihm die Tiefe zu nehmen. Ich hoffe, mit den zitierten Sätzen wird deutlich, was ich meine.
Ich verstehe den Roman als Plädoyer, nicht mit dem Lebensalter und den damit einhergehenden Fältchen, Besenreißern etc. zu hadern. Unser Gesicht und unser Körper tragen Zeichen des gelebten Lebens, das auf andere Weise attraktiv macht. Für Betty führt die weit verbreitete Wunschvorstellung vom „Forever Young“ wahrlich nicht zum erfüllten, glücklichen Leben.

Dieser Roman ist wunderbar geschrieben und strahlt viel Lebensweisheit aus. Er hat in der Print-Version nur 176 Seiten. Damit eignet er sich gut für zwischendurch, ohne ein Leichtgewicht zu sein. Ich gebe gerne meine Lese-Empfehlung.



 
  • Hilfreiche Rezension
Reaktionen: Querleserin