Rezension Rezension (5/5*) zu Tage in der Geschichte der Stille von Merethe Lindstrøm.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Tage in der Geschichte der Stille von Merethe Lindstrøm
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Vom Schweigen und Verschwinden

Eva, pensionierte Lehrerin, und Simon, Arzt im Ruhestand, leben in einem schönen Haus, die drei gemeinsamen Töchter sind längst erwachsen und ausgezogen. Simon ist deutlich älter und hat bereits mit den Malaisen des Alters zu tun. Er spricht nicht mehr, wirkt verwirrt, geht verloren. Ob es sich dabei um eine bewusste Entscheidung handelt oder um das Symptom einer Krankheit, bleibt lange ungewiss.

„Seine schleichende Veränderung begann vor ein paar Jahren. Aber vielleicht war seine Rastlosigkeit schon lange zuvor da, vielleicht ist sie ein Ausdruck für etwas, das er sich lange gewünscht hatte. Sich davon zu machen.“ (S. 14)

Eva, die Ich-Erzählerin, tut sich schwer mit dem Schweigen. Sie vermisst die Gespräche, empfindet die Stille als bedrückend. Neuerdings geht Simon zweimal wöchentlich in eine Senioreneinrichtung, die Töchter wollen die Mutter überreden, dass er ganz dorthin übersiedelt, um sie zu entlasten.

Eva berichtet uns in Episoden aus ihrem und Simons Leben. Beide haben schon schlimme Dinge erlebt, die ihre Biografie prägen. Sie kennen zwar die Erlebnisse des jeweils anderen, konnten sich aber nicht einmal den eigenen Töchtern anvertrauen. Dadurch wird die Hemmschwelle immer höher und den Kindern ist es unmöglich, aktuelle Ereignisse und Entscheidungen ihrer Eltern nachzuvollziehen. Konflikte stellen sich ein.

„Es gab keine Erklärung. Er konnte es niemandem erklären, es kam so plötzlich. Die Depression. In schweren Phasen war er manchmal mehrere Wochen da, ohne anwesend zu sein, ohne wahrzunehmen, wie die Tage vergingen. Nur ich wusste davon. Die Kinder nicht. Ich habe ihnen nichts erzählt, von der Sonnenfinsternis. Von den Verwandten, den ganzen Menschen aus der Vergangenheit, die weg sind.“ (S. 35)
Das Schweigen und das Verschwinden sind zentrale Motive des Romans. Beide Eheleute empfinden unabhängig voneinander eine schwere Schuld, mit der sie fertig zu werden versuchen. Allerdings nicht miteinander, sondern jeder für sich – ohne Hilfe von außen.

„Schuld ist relativ, antwortete ihr der Priester. (…) Und das Gefühl von Schuld entspricht wohl nicht immer der Härte des Verbrechens.“ (S.53)

Über drei Jahre hatten sie eine Haushaltshilfe: Marija, die zur Freundin wurde. Aufgrund eines „Vorfalls“ musste sie gehen. Lange bleiben die näheren Umstände im Dunklen, es gibt nur Andeutungen und weitere Episoden.

„Ich kann das Warum nicht erklären. Warum ausgerechnet Marija? (…)
Wir haben sie hereingelassen. Wir hatten scheinbar die ganze Zeit auf sie gewartet.“ (S.85)

Es baut sich von Beginn an Spannung auf. Was ist geschehen? Welche Erlebnisse der Vergangenheit haben noch eine dermaßen große Auswirkung auf die Gegenwart? Warum spricht Simon nicht mehr? Warum pflegt Eva das Grab eines unbekannten Jungen?

Die Autorin hat ihren Roman genial komponiert. Gegenwart und Vergangenheit stehen im Wechsel. Immer, wenn sie an neuralgische Punkte kommt, wird wieder geschwiegen. Dennoch wird das Bild für den Leser immer vollständiger. Brillant gemacht.

Hinzu kommt eine sehr hohe sprachliche Dichte. Ich habe langsam gelesen, die Formulierungen genossen. Es gibt Sätze zum Niederknien, zum Nachdenken. Nichts ist leicht, alles hat eine Bedeutung, man möchte die beiden Alten verstehen. Dennoch ist der Roman keinesfalls verkopft, sondern sehr gut lesbar.

Am Ende versteht man die beiden Eheleute nicht unbedingt, dazu wird manches einfach verschwiegen. Aber die wesentlichen Sachverhalte liegen auf dem Tisch und laden zum Nachsinnen über das Gelesene ein. Das ist es, was ich von guter Literatur erwarte.

Meine volle Lese-Empfehlung für diesen tiefgründigen und großartig geschriebenen/ übersetzten Roman! Ein Buch, das in Erinnerung bleibt und einen Dauerplatz in meinem Regal bekommt.


 

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