Rezension Rezension (5/5*) zu HERKUNFT von Saša Stanišić.

Mikka Liest

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Buchinformationen und Rezensionen zu HERKUNFT von Saša Stanišić
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Preisträger des Deutschen Buchpreises 2019

„Herkunft“ klingt nach Heimat, klingt vertraut und einfach, und ist dennoch ein unglaublich komplexes Konzept. „Herkunft“ ist ein Begriff, der dicht verwoben ist mit persönlichen Erfahrungen, Erwartungen, Wünschen und Ängsten, mit dem ureigensten Selbstbild, mit familiärer Historie und dem eigenen geographischen Ursprung, mit Heimat oder deren Verlust. „Herkunft“ ist ein zutiefst subjektives Bedeutungsgeflecht – und dennoch ein Begriff mit politischen Dimensionen, der auch missbraucht wird.

Saša Stanišićs Erinnerungen spiegeln diese Vielfalt perfekt wider.

Ihm gelingt immer aufs Neue die Gratwanderung zwischen der einen und der anderen Facette der Wahrheit. Trauer, Sehnsucht, Wut und Schmerz haben ihren Platz neben Freude und augenzwinkerndem Witz. Mal unheimlich lustig, mal unsäglich tragisch, manchmal beides auf einmal. Er erzählt mit leichtfüßiger Fantasie und viel Humor, ohne die Tragik seiner eigenen Geschichte, untrennbar verbunden mit der Geschichte seines Geburtsorts Višegrad, im geringsten zu schmälern.

Dort kam es im Jahr 1992 zu „ethischen Säuberungen“, in deren Verlauf die beiden Moscheen der Stadt zerstört und etwa 3.000 Menschen der bosnischen Zivilbevölkerung ermordet wurden. Seine bosnisch-muslimische Mutter musste mit dem 14-jährigen Saša über viele Grenzen zu seinem in Deutschland lebendem Onkel fliehen, der serbische Vater kam später nach.

„Wir waren Kriminalität, Jugendarbeitslosigkeit, Ausländeranteil.“

Zu Krieg und Vertreibung gesellten sich in Deutschland neue Herausforderungen: Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit, die Tankstelle als einziger Jugendtreffpunkt, Schule ohne echte Integration. Auch das erzählt Stanišić nicht ohne Humor, aber ungeschönt.

Dass ihm der Deutsche Buchpreis nur wenige Tage zuteil wird, nachdem Peter Handke den Literaturnobelpreis erhielt, wirkt wie eine schrille Dissonanz.

Die Trennung von Autor und Werk ist einerseits unverzichtbar für die Autonomie der Literatur – andererseits besteht die berechtigte Frage, bis zu welchem Grad das umsetzbar ist. Ob man wirklich Peter Handke, der jahrelang genau die Kriegsverbrechen beschönigt und kleingeredet hat, die in Višegrad begangen wurden, mit diesem Preis adeln muss.

Dass Saša Stanišić seine Erschütterung in seiner Dankesrede nicht verschweigen konnte und wollte, ist so verständlich wie der unüberhörbare Kloß in seiner Kehle.

Aber zurück zu „Herkunft“ – zurück zu einem Buch, das zurecht gefeiert wird.

Die Sprache ist wunderbar: mal kindlich naiv, mal geradezu weise, mal voller Zärtlichkeit, wenn er zum Beispiel von der Großmutter erzählt, die Stück für Stück an die Demenz verloren geht und mit der das Buch beginnt und endet. Immer treffen seine Worte genau den Nerv der beschriebenen Szene; nie wird es pathetisch, denn wo er Gefühl ausdrückt, wirkt es auch echt.

Die Geschichte hat zunächst scheinbar kein übergreifendes Konzept, setzt sich zusammen aus unzähligen Fragmenten und Momentaufnahmen, aus Lebenswichtigem und scheinbar Banalem – Autobiographie und Heldenreise, Gesellschaftskritik und Migration und ’neulich beim Rollenspiel‘. Daraus entsteht erstaunlicherweise das homogene Gesamtbild einer Familie, für die Herkunft und Heimat keine Einheit mehr sind.

Das ist so authentisch, dass man an so etwas wie ein Konzept oder einen Handlungsbogen gar nicht mehr denkt.
Dass nicht alles wahr ist, dass hier auch Fiktives eingebunden wurde, das es sogar ein Kapitel gibt, in dem der Leser spielerisch zwischen verschiedenen fantastischen Handlungssträngen entscheiden soll, tut dem keinen Abbruch.

Besonders prägnant sind Stanišićs Gedanken über die Kraft der Sprache: über die Türen, die sie öffnet, über die Möglichkeiten, die sie bietet. Besonders für den, der in der Fremde leben muss.

Das Hörbuch, vom Autor selber gesprochen, ist übrigens eine wunderbare Ergänzung zur Lektüre, wenn auch meines Erachtens kein Ersatz, da das Hörbuch leicht gekürzt ist! Aber man kann das Buch wunderbar erst lesen, dann hören – oder umgekehrt.

Fazit:

„Herkunft“ ist weder hunderprozentig Autobiographie noch hunderprozentig Roman. Der Held heißt Saša Stanišic, die Handlung beruht zweifelsohne auf der Familiengeschichte des Autors, doch er erlaubt sich gewisse Freiheiten – wobei man nie so genau weiß, was nicht doch wahr ist.

Auf jeden Fall habe ich selten so oft gelacht wie beim Lesen dieses Buches, obwohl es hier um Krieg und Vertreibung, Verlust der Heimat, Unverständnis und Fremdenhass geht. Der Humor lässt die ernsten Elemente der Erzählung nur umso deutlicher hervortreten.

Dass einem Autor aus Višegrad dieser Preis nur wenige Tage überreicht wird, nachdem ein anderer Autor, der die Massaker in Višegrad lange beschönigte, den Literaturnobelpreis erhielt, wirkt da fast wie ein absurder Epilog.