Rezension Rezension (5/5*) zu Dort dort von Tommy Orange.

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Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Ein Blick auf den wahren Indianer

Tommy Orange hat mit "Dort dort" ein Buch geschrieben, welches mich tief beeindruckt hat und mich zu wahren Begeisterungsstürmen gebracht hat. Nun befasse ich mich mit der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, der Indianer und Inuit von klein auf. Angefangen hat dies bei mir mit den Filmen von Gojko Mitic, den Büchern von Lieselotte Welskopf-Henrich und Eva Lips, weiter ging es mit den Büchern von Miloslav Stingl und Erich Wustmann. Und dann war sie da, die Liebe zu der Urbevölkerung Amerikas. Heute füllen ethnographische und historische Abhandlungen über die Bevölkerung von Alaska bis Feuerland fast zwei Regalschränke in meinem Wohnzimmer. Einst war die Ethnographie ein Berufswunsch, heute ist sie Hobby. Und über die Jahre hat sich ein gewisses Wissen um die Bewohner Amerikas angesammelt. Und aus diesem Wissen heraus ist es meiner Meinung nach schon lange an der Zeit, dass die amerikanischen Staaten, und damit meine ich alle!, differenzierter und realitätsbewusster auf die Geschichte schauen und der Urbevölkerung endlich einen angestammten und situationsgerechten Platz in ihren Ländern einräumen. Ich befürchte dies wird nie geschehen. Aber uns Europäern und unseren Nachfahren in Amerika sollte klar sein, dass Amerika nicht unsere Heimat ist, sondern wir die Eingewanderten und Aggressoren sind und der ursprünglichen Bevölkerung seither das Leben schwer gemacht haben, bzw. ihnen das Leben genommen haben. Man muss sich mal vor Augen führen, in fast allen einstigen Kolonien haben sich die Kolonisatoren zurückgezogen und der ursprünglichen Bevölkerung mehr oder weniger wieder die führende Position überlassen. Nur in Amerika nicht! Dies hat natürlich Folgen! Man muss sich ebenso mal vor Augen führen, dass die Zeit der Indianerkriege/ die Zeit der Massaker an der indianischen Urbevölkerung erst Ende des 19. Jahrhunderts zu Ende gegangen ist. Die Zeit der Diskriminierung aber nicht! Indianerkinder wurden noch sehr lange den Eltern weggenommen und in Internate gesteckt, um sie zu entindianisieren, was für ein Wort, indianische Sprache und indianische Kultur waren den Kindern hier bei Strafe untersagt, dies ging in einigen Teilen Amerikas(Kanada) bis fast Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hinein so, dies muss man sich mal vorstellen! Dies ist eine gewollte Entwurzelung und macht natürlich etwas mit den Betroffenen! In den USA formierte sich Ende der 60er Jahre indianischer Widerstand, das American Indian Movement (AIM), deren Aktionen auch hier im Buch beschrieben werden, die bekanntesten waren die Besetzung der ehemaligen Gefängnisinsel Alcatraz und die Besetzung des ehemaligen Geländes des Massakers am Wounded Knee. Diese Entwurzelung, die Entrechtung und das Abschieben der Indianer in meist recht unwirtliche Gebiete haben natürlich Folgen, meist wirtschaftliche, aber natürlich auch psychische. Natürlich ist mittlerweile auch ein Wandel in Amerika im Gange. Und auf dieses Konglomerat wirft Tommy Orange mit seinem Buch einen interessanten und echt gelungenen Blick, einen Blick aus den Augen eines Indianers. Tommy Orange ist selbst ein Angehöriger des Cheyenne und Arapahoe Stammes und gerade dies macht diesen Blick auch so authentisch. Man merkt der Sprache in einer kleinen Prise den indianischen Ursprung des Autors an und man bemerkt auch einen gewissen Humor des Autors, etwas was mir bei der Schwere des Themas sehr gefallen hat. In diesem Buch blicken verschiedene indianische Menschen auf ihr Leben und kommen ins Sinnieren und gewähren dem Leser Einblicke in indianisches Leben und Befinden, die anfangs einzeln dastehenden Geschichten verflechten sich nach und nach, bevor es am Ende in einem gewaltigen Finale mündet. Ein Finale, wo ich mich frage, welches Finale den heutigen Indianer in Amerika erwartet? Ein Buch, welches bitter nötig ist und ein Buch, dem hoffentlich noch weitere folgen, um den Blick in Amerika endlich mal indianischer werden zu lassen. Lesen!