Rezension Rezension (4/5*) zu Tyll von Daniel Kehlmann.

Anjuta

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Buchinformationen und Rezensionen zu Tyll von Daniel Kehlmann
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Episoden eines Krieges

Daniel Kehlmann entführt uns in seinem Roman „Tyll“ in das 17. Jahrhundert und reist mit unterschiedlichem Personal durch die vom Dreißigjährigen Krieg ausgelaugten Landschaften des heutigen Deutschlands. Es ist ein Episodenroman, in dem in jedem Kapitel mit immer wieder wechselndem Personal ein weiterer Aspekt dieser dunklen Zeit aufgedeckt wird. Verbindendes Element dabei ist der Gaukler Tyll Eulenspiegel, den wir als Jungen kennenlernen, als er mit einer Freundin sein Heimatdorf verlässt, nachdem sein Vater, ein Müller und Heiler, aufgrund des Vorwurfs der Hexerei gehängt wurde. Wir sehen ihn dann wieder als er mit einem Gaukler durch die Gegend zieht und von ihm in Gauklereien trainiert wird. Und wir erfahren später, dass er es trotz dieser dunklen Zeit ohne große Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Landesteilen zu großem Ruhm als Gaukler gebracht hat und mit dem Tross eines Königs unterwegs ist. In diesen Episoden sowie in Episoden rund um den böhmischen Winterkönig und seine Gemahlin erschließen sich dem Leser einige der Absurditäten und Grausamkeiten dieser Zeit. Oft kommt man dabei ins Schmunzeln. Etwa, wenn die „Wissenschaftler“ mit dem Grundton tiefster Überzeugung ihre Thesen vortragen, die aus Sicht des heutigen Lesers sich sehr leicht als tiefste Unkenntnis zeigen. Hier ein Beispiel:
„Die Substitution (Anm.: Schneckenblut statt Drachenblut) hat ihre Grenzen. Der Pestkranke im Versuch ist trotz des Absuds gestorben, wodurch klar bewiesen ist, dass echtes Drachenblut ihn geheilt hätte. Also brauchen wir einen Drachen.“ (S. 351)
Dann wieder kommt man ins Gruseln. Auf jeden Fall zeigt sich die Zeit als eine, in der der Gaukler wohl der vernünftigste Akteur unter allen Auftretenden überhaupt ist.

Fazit:
Der Roman lebt von einzelnen Bildern und Situationen und nicht von einem inneren Zusammenhang oder einer durchgängigen Geschichte. Diese Bilder und Situationen vermitteln dem Leser ein Bild des 17. Jahrhunderts, das einerseits sehr viel Spaß macht, das mir andererseits aber auch immer wieder etwas ungerecht erscheint. Denn es ist sehr offen geschrieben aus der heutigen Sichtweise heraus, versehen mit allem Wissen und Können der Jetztzeit. Da sind eine gewisse Überheblichkeit und ein Ausspielen des überlegenen Wissens eine Haltung, die sich für mich durch den gesamten Roman zieht. Diese Haltung verringerte bei mir die Freude an dem Roman doch immer wieder etwas.
Und noch etwas hat mich während der gesamten Lektüre immer wieder bewegt: Warum taucht Tyll Eulenspiegel hier auf? Eulenspiegel ist eine Figur des 14. Jahrhunderts, und hier bei Kehlmann taucht er im 17. Jahrhundert auf. Kehlmann verpflanzt ihn hier in eine gänzlich andere Zeit. Warum? Ich habe mir die Frage gestellt, ob gerade diese Figur unabdingbar für das Funktionieren des Romans ist. Meine Antwort ist: eher nicht. Eine Gauklerfigur mit einem unbekannten Namen, als Person unbezeugt in der Historie, hätte für mich genauso gut funktioniert. Warum also diese geschichtliche Zeitreise des Titelhelden? Ich gehe mal nicht so weit und vermute dahinter einen Marketingtrick des Autoren. Mich befremdet einfach diese „Geschichtsfälschung“.
Dennoch bleibt meine Freude am Roman und an seinen lebendigen Szenen und ich gebe gern 4 Sterne.


von: Erik Axl Sund
von: Janina Hecht
von: Dörte Hansen
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Warum also diese geschichtliche Zeitreise des Titelhelden? Ich gehe mal nicht so weit und vermute dahinter einen Marketingtrick des Autoren.
Ich fand diese künstlerische Abweichung genial. Schließlich finden wir im Roman auch manchen Streich des Titelhelden wieder (z.B. das Schuhe-Vertauschen).
Hat es die Figur des Till überhaupt wirklich gegeben? Ich habe nicht recherchiert, für mich ist er aber eher eine Sagengestalt wie z.B. Rübezahl. Insofern war mir auch nicht bewusst, dass er zeitlich anders verortet ist.
Tyll ist für mich eines der Lieblingsbücher geworden. Hier weichen wir beide etwas voneinander ab ;)
 

MRO1975

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Daniel Kehlmann entführt uns in seinem Roman „Tyll“ in das 17. Jahrhundert und reist mit unterschiedlichem Personal durch die vom Dreißigjährigen Krieg ausgelaugten Landschaften des heutigen Deutschlands. Es ist ein Episodenroman, in dem in jedem Kapitel mit immer wieder wechselndem Personal ein weiterer Aspekt dieser dunklen Zeit aufgedeckt wird. Verbindendes Element dabei ist der Gaukler Tyll Eulenspiegel, den wir als Jungen kennenlernen, als er mit einer Freundin sein Heimatdorf verlässt, nachdem sein Vater, ein Müller und Heiler, aufgrund des Vorwurfs der Hexerei gehängt wurde. Wir sehen ihn dann wieder als er mit einem Gaukler durch die Gegend zieht und von ihm in Gauklereien trainiert wird. Und wir erfahren später, dass er es trotz dieser dunklen Zeit ohne große Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Landesteilen zu großem Ruhm als Gaukler gebracht hat und mit dem Tross eines Königs unterwegs ist. In diesen Episoden sowie in Episoden rund um den böhmischen Winterkönig und seine Gemahlin erschließen sich dem Leser einige der Absurditäten und Grausamkeiten dieser Zeit. Oft kommt man dabei ins Schmunzeln. Etwa, wenn die „Wissenschaftler“ mit dem Grundton tiefster Überzeugung ihre Thesen vortragen, die aus Sicht des heutigen Lesers sich sehr leicht als tiefste Unkenntnis zeigen. Hier ein Beispiel:
„Die Substitution (Anm.: Schneckenblut statt Drachenblut) hat ihre Grenzen. Der Pestkranke im Versuch ist trotz des Absuds gestorben, wodurch klar bewiesen ist, dass echtes Drachenblut ihn geheilt hätte. Also brauchen wir einen Drachen.“ (S. 351)
Dann wieder kommt man ins Gruseln. Auf jeden Fall zeigt sich die Zeit als eine, in der der Gaukler wohl der vernünftigste Akteur unter allen Auftretenden überhaupt ist.

Fazit:
Der Roman lebt von einzelnen Bildern und Situationen und nicht von einem inneren Zusammenhang oder einer durchgängigen Geschichte. Diese Bilder und Situationen vermitteln dem Leser ein Bild des 17. Jahrhunderts, das einerseits sehr viel Spaß macht, das mir andererseits aber auch immer wieder etwas ungerecht erscheint. Denn es ist sehr offen geschrieben aus der heutigen Sichtweise heraus, versehen mit allem Wissen und Können der Jetztzeit. Da sind eine gewisse Überheblichkeit und ein Ausspielen des überlegenen Wissens eine Haltung, die sich für mich durch den gesamten Roman zieht. Diese Haltung verringerte bei mir die Freude an dem Roman doch immer wieder etwas.
Und noch etwas hat mich während der gesamten Lektüre immer wieder bewegt: Warum taucht Tyll Eulenspiegel hier auf? Eulenspiegel ist eine Figur des 14. Jahrhunderts, und hier bei Kehlmann taucht er im 17. Jahrhundert auf. Kehlmann verpflanzt ihn hier in eine gänzlich andere Zeit. Warum? Ich habe mir die Frage gestellt, ob gerade diese Figur unabdingbar für das Funktionieren des Romans ist. Meine Antwort ist: eher nicht. Eine Gauklerfigur mit einem unbekannten Namen, als Person unbezeugt in der Historie, hätte für mich genauso gut funktioniert. Warum also diese geschichtliche Zeitreise des Titelhelden? Ich gehe mal nicht so weit und vermute dahinter einen Marketingtrick des Autoren. Mich befremdet einfach diese „Geschichtsfälschung“.
Dennoch bleibt meine Freude am Roman und an seinen lebendigen Szenen und ich gebe gern 4 Sterne.



von: Erik Axl Sund
von: Janina Hecht
von: Dörte Hansen
Mir ist die zeitliche Versetzung gar nicht aufgefallen, folglich hat sie mich auch nicht gestört. Das ist das Privileg der Unwissenden. ;)

Deine Frage ist aber durchaus berechtigt. Ich würde das unter künstlerischer Freiheit verbuchen. Mit einem anderen Gaukler hätte die Geschichte für mich nicht so gut funktioniert, da der Bekanntheitsgrad von Tyll schon ein Anziehungspunkt ist.

Für mich war der Roman auch mehr als eine Aneinanderreihung von Episoden. Die Geschichte von Tyll zieht sich wie ein roter Faden durchs Buch und ich habe mich bei jedem Abschnitt auf sein Auftauchen gefreut und gefragt, wie er wohl dieses Mal in die Handlung eingebaut ist. Auch andere Personen tauchen mehrfach auf, wie die Gelehrten oder die Winterkönigin. Dadurch wurde der Roman für mich zu einem Ganzen.