Rezension Rezension (4/5*) zu Miroloi: Roman von Karen Köhler.

ElisabethBulitta

Bekanntes Mitglied
8. November 2018
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Singe uns dein Totenlied

Karen Köhlers dystopisches Romandebüt „Miroloi“ stand im Jahr 2019 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Dieses hat mich, gemeinsam mit dem interessant klingenden Klappentext, dazu veranlasst, zu diesem Buch zu greifen. Erfüllen konnte dieser 464-seitige Roman, der im August 2019 bei Carl Hanser erschienen ist, meine Erwartungen indes nicht – dazu hat er einfach nicht genug Neues zu bieten.
Die Ich-Erzählerin, eine junge, namenlose Frau, lebt als Aussätzige im „Schönen Dorf“ – einer patriarchalischen, religiös fundamentalistischen Gesellschaft. Die Männer, allen voran der Betvater und der Ältestenrat, haben hier das Sagen, und sind, wie in jeder diktatorischen Gesellschaft, gleicher als gleich. Als der Betvater, der gleichzeitig ihr Ziehvater ist, sie das Lesen und Schreiben lehrt, kurz darauf stirbt und sie in Yael, einem jungen Betschüler, einen Liebhaber findet, beginnt sich die Protagonistin gegen die herrschenden Zustände zu wehren.
Sprachlich und stilistisch ist der Roman stimmig: In 128 Strophen singt die Erzählerin hier ihr „Miroloi“, ihr Totenlied, das ihr als Findelkind eigentlich gar nicht zusteht. Die Sprache ist einfach, kindlich naiv, was sehr gut zum Bildungsstand der Dorfbewohner/innen passt und den Roman an sich, hat man sich einmal in den Stil eingefunden, gut lesbar macht. Der Aufbau einiger Strophen sowie die zahlreichen Wortneuschöpfungen zeugen von Kreativität. Über weite Strecken werden das Leben und die Rituale in dieser Gemeinschaft beschrieben, wodurch Leserinnen und Leser tief in diese archaische Welt eintauchen können. Als sehr treffend empfand ich beim Lesen auch die Dialoge. Die Stimmung ist durchgehend düster: Die Protagonistin selbst trägt aufgrund ihrer unbekannten Herkunft keinen Namen, wird von den meisten nur „Eselshure. Schlitzi. Nachgeburt der Hölle“ (S. 9) genannt. Die Dorfältesten wehren sich gegen fast jede Art des Fortschritts, sodass man auf dieser Insel, die im Mittelmeer verortet zu sein scheint, fast so lebt wie in der Antike, obwohl es in der Welt „drüben“, d.h. jenseits des Meeres, zu der mittels eines Händlers Kontakt gepflegt wird, schon viele Errungenschaften der Moderne gibt.
Die Themen, die Köhler in diesem Roman aufgreift, sind vielfältig – und hier liegt m.E. das Manko des Romans. Sie reichen von Konservatismus über Feminismus, Gesellschafts- und soziale Fragen, Religion bis hin zu Bildungsthemen. Vieles wird hier auch miteinander vermischt, wenn die Religion in diesem Dorf z.B. auf der einen Seite durch ihren Polytheismus in Gestalt von Feuer, Wasser, Erde bzw. Zerstörer, Bewahrer, Schöpfer an Naturreligionen erinnert, auf der anderen Seite aber auch Elemente von Christen- und Judentum sowie dem Islam beinhaltet. Wütende Dorfbewohner/innen, die nach Bananen schreien, erinnern an Szenen, die wohl jeder noch aus Zeiten der deutschen Wiedervereinigung vor Augen hat und wirken fast schon ungewollt komisch, genau wie der Umstand, dass die Protagonistin sich gegen Ende mithilfe von Plastikmüll verkleidet und ihre Leidensgenossinnen zu einer Revolte anstiftete. Und dieses sind nur einige Punkte, die ich herausgegriffen habe. Bei solch einer Fülle an Themen ist es nicht verwunderlich, dass letztlich alles an der Oberfläche bleibt.
Bildung in Form des Lesen- und Schreibenkönnens sowie das sich Lösen von Alterhergebrachtem bietet Köhler als Schritt in eine gerechtere Zukunft an – beides Dinge, die in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft durchaus praktiziert werden, die allein aber nicht ausreichen. Zugute halten muss man der Autorin, dass sie das Ende des Romans offen lässt – man weiß am Ende weder, wie es mit dem Schicksal des Dorfes noch mit dem der Protagonistin weitergeht. Doch alles in allem wird hier nur eine Reihe von schon hinlänglich behandelten Gesellschaftsdefiziten aufs Tapet gebracht, ohne dass wirklich Neues oder Alternativen zu schon Bestehendem geboten werden.
Aufgrund seines ungewöhnlichen Stils und seiner guten Lesbarkeit habe ich den Roman zu Ende gelesen. Inhaltlich überzeugen konnte er mich überhaupt nicht, auch wenn er vielleicht einige Denkanstöße bietet – Denkanstöße allerdings, die man sich woanders fundierter holen und die man mit etwas gesundem Menschenverstand im Grunde selbst finden kann.