Rezension Rezension (5/5*) zu Genau richtig: Die kurze Geschichte einer langen Nacht von Jostein Gaarder.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Genau richtig von Jostein Gaarder
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Die Diagnose...

Albert hat eine schlimme Diagnose von seiner Ärztin und ehemaligen Geliebten erhalten. Während seine Frau Eirin auf einem Kongress ist, fährt er allein in die einsame Ferienhütte an einem Waldsee: Soll er sein Leben selbst beenden, bevor es die tödliche Krankheit tut? Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, schreibt er in das Hüttenbuch. Er erzählt, wie er Eirin kennenlernte und wie sie als jung Verliebte in das Märchenhaus einbrachen, das sie später gekauft haben. Wie seine Ehe zu kriseln begann, welche Rolle Sohn und Enkelin für ihn spielen und von seiner Begeisterung für die Astrophysik. Es wird eine lange Nacht, bis irgendwann ein Boot ruderlos auf dem See treibt und ein Fremder erscheint.

Albert ist geflohen. Geflohen vor der Diagnose, die ihm gerade mitgeteilt wurde, geflohen vor dem, was ihn erwarten mag, geflohen vor seinen Lieben, mit denen er die Nachricht nicht teilen möchte. Er ist allein im einsam gelegenen Märchenhaus, wie er und seine Familie die Ferienhütte am Waldsee nennen. Er will in Ruhe nachdenken - und eine Entscheidung treffen. Und welcher Ort könnte dafür besser geeignet sein als die einsame Hütte und der tiefe See, der immer ein wenig geheimnisvoll scheint?


"Solche Seen haben etwas Unergründliches, etwas Widersprüchliches. Sie können mitten am Tag so hell und blau wirken, so lebensbejahend und heiter, aber dann werden sie so schwarz und bedrohlich, wenn die Nacht hereinbricht, wie tiefe Senken in der Zeit, schwarze Löcher mit einer so starken Schwerkraft, dass sie alles einsaugen." (S. 24)


Dieser See wird für Albert zum Symbol seiner Gedanken, Emotionen, Erinnerungen - ein Abbild seines Lebens, seiner heiteren Stunden ebenso wie seiner dunklen Gedanken, so wie sie sich nun an ihn heranschleichen. Der 56Jährige schreibt alles nieder, was ihm durch den Kopf geht, hofft, dabei auf einen roten Faden zu stoßen, der ihm helfen wird, seine Entscheidung zu treffen: Aushalten bis zum bitteren Ende oder aber...?

Der innere Monolog besticht durch sorgfältige Formulierungen und bildhafte Schilderungen, die dem Leser auch komplexere Gedankengänge zugänglich machen. Albert verliert sich nicht in seinen Erinnerungen, auch wenn diese sich immer wieder aufdrängen. Er stellt sein eigenes Schicksal im Laufe der langen, einsamen Nacht in den Zusammenhang mit der gesamten Menschheit ("Nichts an meiner Situation ist einzigartig, im Gegenteil..." - S. 9), der Evolution und letztlich dem ganzen Universum.

So wie man es bei Jostein Gaarder vermutlich erwarten kann, halten hier wieder einmal philosophische Denkansätze und zudem ein klein wenig Astrophysik Einzug - wovon man sich aber nicht abschrecken lassen sollte. Der Autor bastelt aus all diesen Ansätzen ein Kaleidoskop von Zusammenhängen, die gleichzeitig faszinieren, dabei aber auch nicht vergessen lassen, dass es sich hier um die dunkle Nacht einer Entscheidung handelt.


"Es hat nie ein Sein gegeben, sondern nur ein Werden, denn nichts auf der Welt hat Bestand." (S. 92)


Ein kleines, aber feines Buch, das nachdenklich stimmt und nicht zuletzt die Frage aufwirft, was Menschsein eigentlich bedeutet. Das von Quint Buchholz liebevoll gestaltete Cover passt hervorragend zu dieser Erzählung und lässt das Dunkle der einen langen Nacht erahnen. Wieder einmal empfehlenswert!


© Parden