Rezension Rezension (5/5*) zu Das Mädchen an der Grenze: Roman von Thomas Sautner.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das Mädchen an der Grenze: Roman von Thomas Sautner
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Die Grenzen von Malinas Welt

Im Grenzland zwischen dem, was andere Menschen als die unbestreitbare Realität betrachten, und ihrer ganz persönlichen Wahrheit, lebt die junge Malina ihr verzaubertes, manchmal verstörend andersartiges Leben. Immer wieder ‚zerwackelt‘ ihre Wahrnehmung, wie sie das nennt, zerfällt ihre Welt in winzige Fragmente, und durch die Risse im Realitätsgefüge fällt gleißend helles Licht.

Sie sieht und hört und weiß Dinge, die andere Menschen nicht sehen oder hören oder wissen. Sie besucht und beeinflusst die Leben anderer, über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg, und erlebt so zum Beispiel die Geburt ihres eigenen Vaters. In der Gegenwart befreit sie diesen durch Handauflegen von seiner Aggression.

Hat dieses Mädchen eine blühende Fantasie? Leidet sie an einer psychischen Störung? Hat sie tatsächlich übernatürliche Fähigkeiten? So oder so: Realität ist in diesem Buch ein wandelbares Konstrukt. Was immer jedoch Malinas besondere Wahrnehmung der Welt verursacht, es bringt sie zwischenzeitlich in eine psychiatrische Anstalt.

Thomas Sautner beschreibt das mit zunehmender Intensität.

Immer wenn man glaubt, man hätte die Grenzen von Malinas Welt ausgelotet, eröffnet sich ein weiterer Aspekt, der alles verändert. In ihrem Innenleben wie in ihrem physikalischen Umfeld passiert sehr viel, und manchmal alles gleichzeitig. Verschiedene Handlungsstränge überlappen sich oder verlaufend fließend ineinander, so dass es nicht immer einfach ist, den Überblick zu bewahren.

Das sollte vielleicht nicht funktionieren, aber bei diesem Buch, in dem es um Grenzen und Grenzübschreitungen geht, funktioniert es meines Erachtens sehr gut.

Während der zweite und dritte Teil des Buches sich vor allem mit Malinas Psyche beschäftigen, nähert sich die Geschichte im vierten Teil wieder der geographischen und politischen Grenze in Malinas Leben an. Wir sind zurück in der Realität, und dort hat die Welt sich gravierend verändert.

Die zweite Grenze:

Malina lebt nicht nur an der Grenze zwischen Realität und Illusion, sondern auch an der österreichisch-tschechischen Grenze, im Jahr 1989. Noch hängt der eiserne Vorhang, noch hält sich der Status Quo, irgendwie. Aber es ist eine Zeit des bevorstehenden Umsturzes, an einem Ort, an dem man diesen Umsturz bereits in den Knochen spürt.

Die Spannungen zeigen sich schon ganz am Anfang: Die Kinder wagen sich als Mutprobe in den Wald nahe der Grenzstation (eine der vielen Grenzüberschreitungen dieser Geschichte). Malina wird ohnmächtig, ein tschechicher Grenzer findet sie und trägt sie davon, bevor Freunde oder Familie ihr zur Hilfe eilen können. Ihr Vater, halb wahnsinnig vor Sorge, schwingt sich aufs Rad und überschreitet selber die Grenze, wird fast erschossen. Panik auf beiden Seiten.

Aber dann ist doch alles ganz anders – jenseits der Grenze finden die Charaktere dieses Romans selten das, was sie erwartet haben.

Die Sprache ist klar und dicht und ausdrucksstark, voller intensiver Bilder.

Thomas Sautner findet die passenden Worte für Malinas komplexe Gedanken und Träume: schwebend, träumerisch, vorurteilsfrei.

Man kann es lesen als modernes Märchen, oder als Geschichte eines kranken Kindes, das an der Realität zerbricht und sich wieder zurückkämpfen muss in ein besseres Leben. Und es gibt sicher noch viele andere Interpretationsmöglichkeiten.

FAZIT

Der Titel des Buches ist treffend gewählt, denn hier geht es um Grenzen und Grenzüberschreitungen vieler Arten.

Malina lebt mit ihrer Familie nahe der österreichisch-tschechischen Grenze, zur Zeit des Berliner Mauerfalls. Aber es sind nicht nur die gesellschaftlichen Spannungen der Zeit, die sie beschäftigen: ihre Wahrnehmung deckt sich nur selten mit der Wahrnehmung anderer Menschen, ihre Wirklichkeit ist ein sehr fragiles Gefüge.