Fünf Generationen zwischen Deutschland und Russland: Alexander Osang schreibt den Roman des 20. Jahrhunderts.
Russland, Anfang des 20. Jahrhunderts. In einer kleinen Provinzstadt östlich von Moskau wird der Revolutionär Viktor Krasnow hingerichtet. Wie eine gewaltige Welle erfasst die Zeit in diesem Moment Viktors Tochter Lena. Sie heiratet den deutschen Textilingenieur Robert Silber und flieht mit diesem 1936 nach Berlin, als die politische Lage in der Sowjetunion gefährlich wird. In Schlesien überleben sie den Zweiten Weltkrieg, aber dann verschwindet Robert in den Wirren der Nachkriegszeit, und Elena muss ihre vier Töchter alleine durchbringen. Sie sollen den Weg weitergehen, den Elena begonnen hat zu gehen – hinaus aus einem zu engen Leben, weg vom Unglück. Doch stimmt diese Geschichte, wie Elena sie ihrer Familie immer wieder erzählt hat? Mehr als zwanzig Jahre nach Elenas Tod, macht sich ihr Enkel, der Filmemacher Konstantin Stein, auf den Weg nach Russland. Er will die Geschichte des Jahrhunderts und seiner Familie verstehen, um sich selbst zu verstehen.Kaufen
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Alexander Osangs Familienroman „Die Leben der Elena Silber“ ist im August 2019 im Fischer Verlag erschienen und umfasst 624 Seiten.
Konstantin Stein ist ein mäßig erfolgreicher Filmemacher. Als sein Vater, Claus, in ein Pflegeheim kommt, beginnt der Sohn, seine Familiengeschichte zu erforschen. Diese führt ihn zurück in das noch zaristische Russland, wo sein Urgroßvater einst als Revolutionär hingerichtet wurde. Für dessen Tochter, Elena, Konstantins Großmutter, beginnt damit ein neues Leben, das sie schließlich nach Deutschland führt und sich noch auf das Leben der heutigen Generation auswirkt.
Alexander Osang erzählt die gut ein Jahrhundert umfassende Geschichte dieser Familie auf verschiedenen Zeitebenen, wobei er auch anachronisch vorgeht: Die Begebenheiten in der Gegenwart werden immer wieder durch Phasen, die in der Vergangenheit spielen, unterbrochen. Dabei thematisiert er wichtige Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die deutsche und auch russische Geschichte betreffend: Russische Revolution, Aufbau und Leben in der UdSSR, Zweiter Weltkrieg, Kriegsende und Nachkriegszeit, die Gründung zweier deutscher Staaten und schließlich das Leben in der DDR. Zudem werden die verschiedenen Handlungsorte nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart dargestellt, wenn Konstantin zum Beispiel mit seinen Eltern nach Sorau, dem heutigen polnischen Żary, in die Niederlausitz reist, oder mit seinem Cousin zusammen in die Heimatstadt seiner Großmutter, nach Gorbatow im Oblast Nischni Nowgorod.
Blitzlichtartig werden bedeutsam Episoden aus dieser Familiengeschichte beleuchtet und sehr lebendig sowie plastisch geschildert; man hat beim Lesen fast das Gefühl, dabei zu sein. Insbesondere die letzten Kriegstage im ursprünglich deutschen Żary, der Einmarsch der Roten Armee, aber auch das Verschwinden von Konstantins Großvater, Robert Silber, haben mich sehr beeindruckt. Sicher regen solche Szenen auch dazu an, über die eigene Familiengeschichte nachzudenken – mir ging es beim Lesen jedenfalls so, da ich mit Erzählungen aus dieser Zeit groß geworden bin.
Ein weiteres Thema, das diesen Roman durchzieht, ist der Umgang mit den alternden Eltern, die man irgendwann einfach nicht mehr allein versorgen kann und die vielleicht irgendwann zu Pflegefällen werden. Hier habe ich vieles beim Lesen ebenfalls als sehr realitätsgetreu empfunden, sei es Konstantins Unverständnis für diesen letzten Schritt, sei es die Entwicklung seines Vaters selbst.
Osangs Sprache und Stil sind flüssig zu lesen. Zu Beginn eines jeden Kapitels sind Handlungsort und –zeit angegeben, weshalb es leicht fällt, sich trotz der verschiedenen Handlungsstränge zu orientieren. Zu Beginn des Romans gibt es eine Auflistung der Familienmitglieder sowie in der vorderen und hinteren Buchklappe eine Karte, auf der die Orte eingezeichnet sind, bzw. einen Familienstammbaum; auf beides habe ich beim Lesen immer wieder gerne zurückgegriffen, erleichtert es doch ebenfalls die Orientierung.
Das Cover zeigt einen Mädchenkopf mit einem geflochtenen Haarkranz von hinten, passt also sehr gut zu den unterschiedlichen Epochen sowie der Titelfigur, Elena Silber.
Insgesamt präsentiert Alexander Osang mit „Die Leben der Elena Silber“ eine eindrucksvolle Reise in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich flüssig und interessant lesen lässt, zum Nachdenken und ggf. Reflektieren der eigenen Familiengeschichte anregt, die aber auch viel Wissenswertes über diese Zeit zu bieten hat für diejenigen, die hier weniger bewandert sind. Ich kann dieses Buch jedenfalls als Lektüre wärmstens empfehlen.
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