Auch die Mutter von Celeste ist keine Heilige, auch wenn sie sich zur Madonna während ihrer "Geschäfte" hinwendet (was an sich auch ziemlich unglaubwürdig ist).
So unrealistisch finde ich es nicht. Wenn man jetzt die religiöse Seite betrachtet: Es war z.B. bei der italienischen Mafia durchaus üblich, dass man in den Beichtstuhl ging, um seine Sünden zu beichten, und anschließend den Priester zur Sicherheit umbrachte, damit er nichts verraten konnte (habe ich irgendwann mal gehört). Im Allgemeinen sehe ich da auch Parallelen zu einem Adolf Hitler, der Vegetarier war und Schnittblumen verabscheute, auf der anderen Seite aber keine Hemmungen hatte, massig Andersdenkende oder "unwertes Leben" in den Tod zu schicken - und das auf grausamste Weise. Für Ähnliches gibt es zahlreiche Beispiele. Wobei auf S. 96 auch steht, dass Carmela "einsatzbereit in Gebetshaltung dakniete, um gleich zur Sache zu kommen." Da ist die Frage, was von Religiosität übrig ist.
Alles in allem bleibe ich allerdings bei dem Glauben, dass es hier um naiven Glauben geht. Das entnehme ich auch dem Umstand, dass die Hochzeit am Heiligenfest stattfinden soll. Natürlich schadet es nicht zu beten und sich den Heiligen zuzuwenden. Aber es ist naiv zu glauben, dass dann alles hier und jetzt gut wird. (Das erinnert mich ein wenig an eine Kollegin, die, als meine Eltern krank waren, gesagt hat: "Wenn du betest, werden sie wieder gesund." Da blieb mir auch die Spucke weg.)
Allerdings denke ich nicht, dass Glauben/Religion oder auch der Kampf zwischen Gut und Böse (denn zu dem kommt es eigentlich nicht wirklich) der Sinn dieses Buches sind, sondern eher eine (zugegebenermaßen überzeichnete und verklausulierte) Darstellung der Welt, so wie sie ist. Und dass eben unsere Möglichkeiten, sie zu einem Besseren zu führen, begrenzt sind - wenngleich nicht unmöglich, wie die "Flucht" von Mimmo und Celeste impliziert, die dann doch einen Hoffnungsschimmer darstellt.
Auch vor Gesellschaftskritik schreckt Calaciura nicht zurück. Die Marktszene fand ich z.B. vielsagend, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich sie nicht vielleicht zu "platt" verstehe. Sie implliziert m.E. Kritik am Konsum (an einigen Stellen habe ich mich an Menschen erinnert gefühlt, die ihr Geld für Sinnloses ausgeben und sich dann wundern, warum sie sich nichts zu essen leisten können, oder, das kenne ich auch aus meinem Umfeld, Geld, dass sie verdienen, gleich wieder verbraten müssen). Die "Gymnastikschuhe mit [...] Lämpchen" könnten wieder einen Hinweis auf die Zeit geben, da es diese Art Schuhe ja noch nicht allzu lange gibt (glaube ich zumindest). Die Turnschuhe wurden einst verkauft und dann vom ehemaligen Verkäufer wieder gekauft. Das ewig Gleiche. Auch eine m.M. n. wichtige Aussage des Buches.
Ein weiterer Aspekt auch der Gesellschaftskritik: Als Cristofaro nicht mehr geschlagen wird, kommen die Menschen abends wieder auf die Straße. Vorher haben sie sein Weinen durch den Fernseher zu übertönen versucht. Kennen wir das nicht alle auch von uns? Augen zu, dann gibt es das nicht? Ich kann mich da jedenfalls nicht ausschließen - obgleich in weniger brutalen Bereichen.
Totò versucht, sein Leben (und auch das von Carmela und Celeste) zu änderen. Aber auch dieses geschieht eher auf unangebrachte Art und Weise). Die Schuhe werden gestohlen, der Schmuck ebenfalls - für ihn bestimmt ein guter Weg, objektiv betrachtet aber absolut unangebracht.
104/105: Hier ist vom gestohlenen Schmuck die Rede. Und dass diejenigen, die den Schmuck den Reichen stehlen, auch nicht "besser als die" ist. Wenn man sich die Menschheitsgeschichte anschaut, gibt es für ähnliches Verhalten zahlreiche Beispiele, die bekanntesten sind wohl die Französische und die Russische Revolution. Beide sind erst einmal in einen Blutrausch ausgeartet. Womit ich gerade Erstere nicht an sich kritisieren will, aber an Schillers "Da werden Weiber zu Hyänen" ist schon was dran.
Die Kugel, die Totò verfolgt. An sich wirklich unrealistisch, aber damit schließt sich der Kreis. Er stirbt dort, wo auch sein Vater zu Tode kam, konnte also seinem Schicksal (Erbsünde?) nicht entgehen. Allerdings ist trotz allem meine Frage, ob und wo er etwas hätte ändern können. Aber eben auch hier wieder das Motiv, dass das Schicksal nur begrenzt beeinflussbar ist und man diesem nur begrenzt entgehen kann. Wobei ich, und das betone ich immer wieder, nicht glaube, dass man per se machtlos ist, aber man muss eben Grenzen akzeptieren.
Die Szene mit Naná - sehr brutal, aber auch hier ein Körnchen Wahrheit. Die Methoden, zu denen der Mensch greift, um seinen Willen/seine Wünsche zu erfüllen, sind oft unglaublich. Wichtig finde ich hier den Satz "Sie spürten die Niedertracht [...] und waren zu allen Schandtaten bereit." (143). Auch hier in aller Fantastik wieder eine realistische Einschätzung.
Das Pferd, das zu Mimmo spricht. Auch wieder auf den ersten Blick an der Realität vorbei. Darüber muss ich auch noch nachdenken, aber auf den ersten Blick erscheint es mir als "intuitives Wissen" von Mimmo. Wir wissen, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, unser Inneres versucht es uns auch zu sagen, aber wie sehen es erst, wenn es gänzlich offenbar wir. Aber wie geschrieben: Keine Ahnung, ob ich damit richtig liege.