Franz Kafka: Kleine Fabel

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Da ein Wunsch besteht, weitere Parabeln von Kafka zu "besprechen" eine weitere:

Kleine Fabel
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.
 

ElisabethBulitta

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Als Erstes stelle ich mal fest, dass es keine Fabel ist, denn es fehlt die Moral am Ende. Und es scheint um die Ausweglosigkeit des Lebens zu gehen.
Wie dem auch sei: Am Anfang hat die Maus so viel Freiheit, dass sie Angst davor bekommt/hat und froh ist, eine Richtschnur zu haben (die Mauern, die ihr den Weg weisen bzw. Orientierung geben). Dass die Mauern schnell auf sie zueilen, erinnert mich übrigens auch an das menschliche Leben (heute hatte ich auf Grundschulniveau noch diese Diskussion mit meinen Dritt-/Viertklässlern: Die vier Jahre Grundschule erscheinen den Kindern, und so ging es mir auch, unheimlich lang. Die neun Jahre Gymnasium waren dann genauso lang wie die vier Jahre Grundschule, und heute, als Erwachsene, sind vier Jahre praktisch nur noch ein WImpernschlag.) Die Frage ist natürlich, was die Falle darstellt. Auf der einen Seite möglicherweise den Tod, dem man nicht entrinnen kann (und auch das Umkehren nützt da nicht viel). Auf jeden Fall gibt es in dem Moment, in dem die Maus der Nähe der Falle gewahr wird, kein Entrinnen mehr. Interpretiere ich eben die Falle als Tod, gibt es wirklich kein Entrinnen. Ich kann natürlich die Falle auch als ein Ziel interpretieren, dem ich hinterhereile, ohne es jemals erreichen zu können (ich nehme in diversen Elterngesprächen ["Wenn das Kind und Sie sich anstrengen, wird es das Gymnasium schon schaffen."] immer das Beispiel, ich, EB, setzte mir als Ziel, den Olympiasieg im 100m-Lauf zu erringen; da könnte ich auch trainieren, wie ich wollte, es würde nichts bringen - außer am Ende die Katastrophe). Dann gäbe es einen Ausweg, aber den nur dort, wo die Mauern noch weit weg bzw. nicht existent sind.

Die Katze finde ich jetzt schwer. Auf jeden Fall scheint die Maus so eingeengt zu sein, dass sie die Gefahr, die hinter ihr lauert, nicht wahrnimmt (oder sogar ausblendet?). Andererseits erscheint sie aber auch noch kurz vor der Umkehr als rettender Anker, gibt sie der Maus doch einen Tipp, der allerdings die verfahrene Situation auch nicht rettet (die Maus kommt sozusagen vom Regen in die Traufe). Hätte die Maus vorher ihren Horizont erweitert, hätte es vielleicht auch noch hier eine Rettung geben können.

Aber alles in allem ist für mich diese Fabel ein Sinnbild für die Ausweglosikeit des (menschlichen) Lebens.
 

Querleserin

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Wadern
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Ich wäre froh meine Schüler*innen würden nur halb so viel dazu schreiben können ;)
Ich finde deine Deutung absolut nachvollziehbar- Leben auf den Tod hin, Ausweglosigkeit. Aber wie du schreibst, könnte es auch eine Warnung sein, sich nicht zu beschränken. Ich lasse die Schüler*innen die "Fabel" auf ihre Lebenssituation beziehen, noch sind die Mauern weit weg...
 

Literaturhexle

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Ich finde Elisabeths ausführliche Erklärung faszinierend. Ich bin mit diesem Text ziemlich überfordert gewesen, hatte ich mich doch gerade an die Parabel gewöhnt ;)
Die Maus als Mensch, die Mauern als Regelwerk an das man sich anpassen muss, das einen einschränkt. Und am Ende wirst du gefressen. Brrrrr.:confused:
 
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ElisabethBulitta

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Ich lasse die Schüler*innen die "Fabel" auf ihre Lebenssituation beziehen, noch sind die Mauern weit weg...

Und es ist auch gut so, dass die Mauern noch weit weg sind. Sie kommen schon noch früh genug.
Und um ehrlich zu sein: Mit Kafka konnte ich in der Schule auch so gar nichts anfangen. Ich bin auch froh, dass ich keine alten Schulhefte mehr besitze und nachschauen kann, was ich damals zusammengekritzelt habe. Aber ok, ich war auch eine faule Socke und wundere mich bis heute, dass ich mein Abi geschafft habe. Nun ja, vielleicht hätte ich damals, als die Mauern noch weit weg waren, einen anderen Weg einschlagen sollen. Hinterher ist man immer klüger.

Trotz allem finde ich, dass man von Jugendlichen, die ihr Abi machen wollen, auch was verlangen darf und muss.
 

ElisabethBulitta

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Auf jeden Fall, sie werden freiwillig nicht mehr nach Klassikern greifen, wenn man sie nicht mit ihnen bekannt macht.

Das sehe ich auch (immer) so. Vor allem wenn von Eltern (und auch der Gesellschaft allgemein) heute immer wieder argumentiert wird: Dafür interessiert sich xy nicht, darum muss er/sie es gar nicht erst machen. Wie soll ich Interessen entwickeln, wenn mir gar nicht erst der Anstoß gegeben wird?
 

Querleserin

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Wie soll ich Interessen entwickeln, wenn mir g
Das sehe ich auch so! Und leider fängt diese Einstellung oder um bei Kafka zu bleiben engen die Mauern die Kinder zu früh ein - indem man sie alles frei entscheiden lässt, bleiben sie oft beim Bekannten. Wenn sie nicht basteln wollen, greifen sie nie zur Schere - das Ergebnis dürft ihr ausbaden. Wir müssten ihnen alle Möglichkeiten offenbaren, und der Maus früher zurufen, ändere mal die Richtung ;) probiere auch noch einen anderen Weg aus.
 

Literaturhexle

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Da ein Wunsch besteht, weitere Parabeln von Kafka zu "besprechen" eine weitere:

Kleine Fabel
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.
@Querleserin:
Hast du noch einen Text (gern eine Parabel) fürs lange Wochenende :)
 

kingofmusic

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Kafka hatte eine offensichtliche Vorliebe für Tiere in seinen Geschichten - man denke nur an den Käfer in "Die Verwandlung", das "Volk der Mäuse" in "Josefine die Sängerin" oder das nicht näher spezifizierte Tier in "Der Bau" (obwohl es sich dort um einen Maulwurf, Dachs oder ähnliches handeln muss :D.)
Die Rivalität zwischen Maus und Katze ist so alt wie das Leben und spiegelt hier für mich die Diskrepanz zwischen (kirchlicher oder politischer) Obrigkeit, die dir den Weg des Lebens vorzeichnet (jetzt mal ehrlich: sind wir nicht alle "abhängig" von Kirche und / oder Staat? Zeichnen diese beiden "Institutionen" nicht unser Leben vor?) und dem "kleinen Mann/ der kleinen Frau" (daher die Maus) wider.
Die einengenden Mauern sind in der (heutigen) Gesellschaft die digitalen Medien und die (a)sozialen Netzwerke, die dir vorgaukeln, du bist nur was, wenn du "mitziehst" und jedem Trend oder Kult oder wie auch immer man das nennt, hinterherhechelst.
Erst wenn das ganze Netzwerk zusammenbricht, wenn nichts mehr geht, merkst du, dass du in die Falle gelaufen bist...Der digitale Tod quasi...Wenn Kafka heute leben würde - ich bin sicher, er hätte seine Schwierigkeiten mit der digitalen Welt. :confused:
 

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.Wenn Kafka heute leben würde - ich bin sicher, er hätte seine Schwierigkeiten mit der digitalen Welt. :confused:
Das glaube ich auch, schließlich wollte er am liebsten in einem Kellerraum - fernab von allem sich dem Schreiben widmen. Er wäre, wie so viele von uns von der digitalen Welt überfordert, die uns daran hindert, mit uns selbst auseinanderzusetzen.
 
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ElisabethBulitta

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Die einengenden Mauern sind in der (heutigen) Gesellschaft die digitalen Medien und die (a)sozialen Netzwerke, die dir vorgaukeln, du bist nur was, wenn du "mitziehst" und jedem Trend oder Kult oder wie auch immer man das nennt, hinterherhechelst.
Erst wenn das ganze Netzwerk zusammenbricht, wenn nichts mehr geht, merkst du, dass du in die Falle gelaufen bist...Der digitale Tod quasi...Wenn Kafka heute leben würde - ich bin sicher, er hätte seine Schwierigkeiten mit der digitalen Welt. :confused:

Das ist gut!