Rezension Rezension (3/5*) zu Gott wohnt im Wedding: Roman von Regina Scheer.

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Gott wohnt im Wedding: Roman von Regina Scheer
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Ein schmaler Grat zwischen Faszination und Langeweile

"Ich bin das älteste Haus in der Straße. Irgendwo hinterm Leopoldplatz soll es noch ältere geben, aber das habe ich natürlich nicht gesehen. Ich habe überhaupt nur gehört, was hier auf meinem Hof, zwischen meinen Wänden geredet wurde, und nur gesehen, was da geschehen ist, und das reicht mir auch."

Regina Scheers Roman "Gott wohnt im Wedding" spielt, wie der Titel schon sagt, in Berlins Stadtteil Wedding, der sich in den letzten Jahren vom schmuddeligen Kiez zum Shabby chic Hipster Viertel gewandelt hat. Die Handlung des Romans konzentriert sich dabei jedoch auf die Zeit, als sich der Wedding gerade im Umbruch befand, also mehr shabby als chic war.

Im Mittelpunkt steht ein Haus und seine Bewohner. Einer der Protagonisten ist tatsächlich dieses Haus – ein heruntergekommenes Mehrfamilienhaus, gebaut im Jahre 1890. Es hat schon einiges in seinem bisherigen Dasein gesehen, u. a. zwei Weltkriege, und natürlich auch unzählige Menschen, die hier ein- und wieder weggezogen sind. Momentan besteht der große Teil der Bewohner aus Sinti- und Roma-Familien, die versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen. Es sind maßgeblich Frauen, die in diesem Haus eine Rolle spielen. Allen voran die alte Gertrud, die fast schon ein Jahrhundert in diesem Haus lebt. Keine andere weiß mehr über die Geschichte des Hauses und dessen Bewohner als sie.

"Von den Leuten hier ist wohl kaum einer im Wedding geboren, vielleicht die kleinen Kinder oder manche der Mütter; die meisten tragen die Landschaften, aus denen sie kommen, noch in den Augen, in den Gesten, in der Schwere ihrer Körper. Sie sind hierher verschlagen worden, durch Kriege, durch Armut, auf der Suche nach einem besseren Leben, und vielleicht ist das hier jetzt ihr Zuhause."

Gleich zu Beginn fällt die Vielschichtigkeit des Romans auf. Regina Scheer packt die unterschiedlichsten Themen an, allen voran ... Judentum während des Nationalsozialismus, die Entwicklung des Lebens in Israel, die jüngste Geschichte der Sinti und Roma, der Wandel des Wedding unter dem Einfluss von Immobilienhaien, die Zusammengehörigkeit der Einwohner, Wedding als Dorf.
Dabei konzentriert sich die Autorin auf die einzelnen Lebenswege der Bewohner des Hauses, die von diesen Themen beeinflusst werden bzw. worden sind. Das kann sehr spannend sein: Gertrud hat beispielsweise ein Geheimnis, dass sie mit Leo, einem jüdischen Bekannten aus der Zeit des Nationalsozialismus, verbindet. Leo konnte damals dem Holocaust entkommen, indem er nach Israel ausgewandert ist. Jetzt, nach über 70 Jahren, taucht er wieder in Berlin auf, um den Nachlass seiner verstorbenen Frau zu regeln. Dabei wandelt er auf den Pfaden seiner Erinnerung, die ihn unweigerlich zu dem alten Haus in der Utrechter Straße im Wedding führen und somit vor Gertruds Tür.
Leider kann die Schilderung dieser Lebenswege beim Lesen auf Dauer ermüden. Aufgrund der Vielzahl von Charakteren innerhalb der Sinti- und Roma-Familien können ihre Darstellungen sehr ausufernd sein. Sicherlich eröffnet die Autorin dem Leser einen Blick auf die Probleme, die sich einer Flüchtlingsfamilie in Deutschland stellen, angefangen bei den Vorurteilen und Steinen, die diesen Menschen in den Weg gelegt werden, während sie versuchen, sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen. Leider ist man jedoch schnell durch die Vielzahl der Charaktere überfordert, deren Schicksale sich teilweise ähneln. Daher droht am Ende Langeweile, so dass hier weniger mehr gewesen wäre.

Der Roman ist auch ein Stück deutsche Zeitgeschichte, die auf kleinem Raum im Wedding stattgefunden hat. Hier werden viele Geschehnisse und historische Personen benannt. Doch auch hier wird man förmlich von der Flut der Ereignisse, Personen und Jahreszahlen erschlagen. Daher ist auch hier der Grat zwischen Faszination und Langeweile ein sehr schmaler.

Ich möchte jedoch nicht außer Acht lassen, dass bei allem Erzählten immer eine große Portion Empathie der Autorin durchschwingt. Denn Regina Scheer legt den Fokus auf die Menschen und das Menscheln. Die Bewohner des Stadtteils Wedding kümmern sich umeinander, sehen sich als verantwortlich für ihre Mitbewohner. Das ist ein sehr wohltuender Aspekt an diesem Buch, der natürlich auch eine Verbindung zu dem Titel des Romans herstellt.

Mein Fazit:
In diesem Roman hat mir der Spannungsbogen gefehlt. Regina Scheer konzentriert sich auf die Lebenswege der Protagonisten, die mit Sicherheit jeder für sich sehr interessant sind, doch in der Masse zuviel. Die empathische Art der Autorin berührt an vielen Stellen. Natürlich war auch die ausgefallene Idee, ein Haus zu einem Protagonisten zu machen, ein sehr gelungene Überraschung. Doch am Ende wäre weniger mehr gewesen. Denn der Stoff, den sie hier zu Papier gebracht hat, hätte mindestens für einen weiteren Roman gereicht.

© Renie

 

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