Im stillen Winkel (Eduard von Keyserling), S. 14-64

Literaturhexle

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Bis jetzt hatte ich von Keyserling nur "Wellen" gelesen, jetzt diese Erzählung, die kurz vor und am Anfang des Großen Krieges angesiedelt ist. Im Mittelpunkt steht Paul, der Sohn des Bankiers von Ost und seiner Frau. Zu Beginn der Geschichte sind sie im Aufbruch in die Sommerresidenz auf dem Land.

Herr von Ost wird als erfolgreicher, unterkühlter Patriarch beschrieben. Seine Frau achtet ihn zwar, ist aber verliebt in den Volontär von Wirden, einen lebenslustigen Mann, der ihr offensichtlich den Hof macht. Paul mag ihn, weil er (Im Gegensatz zum strengen Vater) lustig ist und die Mutter in seiner Gegenwart viel lacht.

Paul leidet unter dem dominanten Vater. Er weiß, dass er dessen Ansprüchen nicht genügt: er ist ihm zu schwach, zu dünn, zu verweichlicht.

Paul ist oft sich selbst überlassen. Er hegt eine ambivalente Bewunderung für die zwei Dorfkinder Lulu und Nandl, die ihn für einen Feigling halten.

Paul wird Zeuge der Liebeserklärung von Wirdens an seine Mutter, er spürt auch, dass die Ehe seiner Eltern unglücklich ist, realisiert aber auch die Heuchelei, hinter der sie sich verstecken. Niemand spricht mit ihm.

Dann bricht der Krieg aus. Von Ost fällt. Auf einmal mutiert der Vater im Hause zum Helden, alle weinen, nur Paul nicht.
Paul übt sich darin, Mut zu haben. Er will Nandl imponieren, sie stößt ihn aber (ungerechtfertigt) von sich. Paul will nun ins Feld ziehen, um seine Tapferkeit zu beweisen. Er wandert los durch den Wald, der ihn zunächst noch freundlich umfängt, zunehmend ziehen aber Sturm und Gewitter auf. Der Junge wird unterkühlt. An den Folgen wird er sterben.

Wie er es ersehnt hat, versammeln sich nun Lulu und Nandl an seinem Grab. Er hat ihre Anerkennung erlangt.
Zudem "war ein neuer Sieg gemeldet worden".


Die Geschichte liest sich gut. Der Erzähler übernimmt die Perspektive des Jungen Paul. Man kann die vielen Emotionen in der Geschichte sehr gut nachvollziehen.

Es gibt die Ebene rund um Paul und die Ebene zwischen den Erwachsenen. Der Krieg mischt die Karten neu.
Beeindruckt haben mich die Stimmungen, die der Autor in wunderbaren Beschreibungen von der Natur widerspiegelt. Sehr gekonnt!

Man hätte der Witwe einen neuen Anfang mit dem Volontär gegönnt. Sie kann aber aus ihren Konventionen nicht ausbrechen.
Der Tod des Jungen hat mich überrascht, passt aber zur Stimmung der Erzählung.

Ich bin gespannt, was ihr zu sagen habt. Es steckt ja noch viel mehr drin.
 
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kingofmusic

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Habe jetzt die ersten Seiten gelesen und sofort fällt die poetische Sprache auf. Die aus der Sicht des Jungen beschriebenen Gesichter, Stimmungen usw. seiner Familie, die bedrohlich wirkende Atmosphäre bei der Ankunft in der Villa (bedingt durch das Wetter), der Möbel in der Villa - all das erzeugt schon eine wohlige Gänsehaut.
Ich habe von Keyserling noch gar nichts gelesen.
 
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KrimiElse

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26. Januar 2019
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buchmafia.blogspot.com
ich habe gestern auch begonnen, musste das Buch aber wegen Müdigkeit wieder weglegen :D
Die Sprache ist wirklich toll, und die Stimmung ein bisschen zum Fürchten. Das gefällt mir sehr.
Für mich ist es auch der erste Keyserling.
 
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kingofmusic

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Eine ganz wunderbare Geschichte - ich weiß, es klingt ambivalent zum Inhalt, der alles andere als fröhlich ist, aber die (wie schon angemerkt) poetische und fast schon lyrische Sprache, mit der der (drohende und letztlich ausgebrochene) Krieg "gezeichnet" ist (das sich wiederholende Donnergrollen und blitzen ist für mich ein Synonym für Kanonendonner und Feuerschein der Gewehre), ist so faszinierend - Wahnsinn. Ich glaube, diese Geschichte wird man öfter lesen können und wird jedes Mal wieder hineingezogen.
So geht Prosa :cool:.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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mit der der (drohende und letztlich ausgebrochene) Krieg "gezeichnet" ist (das sich wiederholende Donnergrollen und blitzen ist für mich ein Synonym für Kanonendonner und Feuerschein der Gewehre),
Natürlich! Da hast du völlig recht. Insofern "fällt" auch der Junge im Krieg...
diese Geschichte wird man öfter lesen können und wird jedes Mal wieder hineingezogen.
So geht Prosa :cool:.
Absolut. Die Geschichte liest sich fluffig und dennoch kann man die Sprache und ihre Bilder genießen. Gesellschaftlich bildet die Familie und ihr Umfeld die ganze Schicht ab. Lesenswert!