Mit Blut und Tränen
"Jedes meiner Bücher entspricht einer Wunde" - ein Ausspruch des französischen Autors Sorj Chalandon. Und was soll ich sagen: Man nimmt es ihm ab. Wenn man einen Roman von Sorj Chalandon liest, kann man spüren, dass dieser mit Blut und Tränen geschrieben wurde. So auch sein aktuelles Buch "Am Tag davor".
In diesem etwa 300 Seiten starken Roman bringt der Autor so einiges unter:
Es ist eine Geschichte über den Bergbau in Frankreich
Es ist ein Justizroman
Es ist ein Roman über Schuld und Sühne
Der Roman beginnt im Jahr 1974, in einem Ort in Norden Frankreichs. Hier regiert der Bergbau. Familien, die hier leben, sind vom Bergbau geprägt. Kaum ein erwachsener Mann, der nicht Untertage in die Zeche Saint-Amé einfährt. Auch wenn die Familie des 14-jährigen Michel Flavent (Ich-Erzähler) bis jetzt von der Landwirtschaft gelebt hat, wird auch sie in den Bann des Bergbaus gezogen. Ein Onkel von Michel ist vor einigen Jahren bei einem Zechenunglück ums Leben gekommen. Nun findet Michels älterer Bruder Jojo eine Anstellung Untertage. Welche beruflichen Möglichkeiten haben auch junge Männer in dieser Gegend? Früher oder später landen sie alle in der Zeche. Es passiert das, was passieren muss. Jojo kommt während eines Grubenunglücks mit 42 andern Bergleuten ums Leben. Ein traumatisches Ereignis für die Familie. Michel kann den Tod seines Bruders nicht verarbeiten. Dazu trägt auch die Tatsache bei, dass kaum einer der Verantwortlichen für dieses Unglück zur Rechenschaft gezogen wurde. Zwanzig Jahre später kehrt Michel unerkannt in die Stadt zurück. Er will Rache nehmen und denjenigen, der für den Tod seines Bruders und seiner Kumpel verantwortlich ist, töten.
Es fällt mir schwer, in der Kürze diejenigen Dinge aufzuzählen, die mir an diesem Roman besonders gefallen haben.
Da ich seit gefühlten Ewigkeiten im Ruhrgebiet lebe, hat die Thematik "Bergbau" für mich einen besonderen Charme. Hier merkt man dem Autor den Journalisten an. Er hat akribisch recherchiert, entwickelt ein authentisches Bild des Zechenalltags und die Auswirkungen auf die Menschen. Einen wesentlichen Beitrag zur Authentizität leistet dabei die Bergarbeitersprache in diesem Buch. Das Leben der Stadt wird von der Zeche dominiert. Man kann förmlich den Kohlenstaub fühlen, riechen und schmecken.
Der Protagonist Michel Flavent. Als er den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen will, ist Michel mittlerweile in den Fünfzigern. Und meine Güte, was hat der Mann gelitten. Der Schmerz um den Verlust seines Bruders, zu dem er aufgeschaut hat, der ihm ein Freund und Vorbild war, verfolgt ihn. Michel hält es nach dem Tod seines Bruders zuhause nicht mehr lange aus. Er geht nach Paris. Und auch hier macht der Tod nicht vor den Menschen, die er liebt halt. Es ist herzzerreißend, wie sehr Michel der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Lediglich die Idee, den Mann, der für den Tod seines Bruders verantwortlich ist, zur Rechenschaft zu ziehen, scheint sein einziger Antrieb im Leben zu sein.
Nun sollte man meinen, dass so viel seelischer Schmerz, wie er hier geschildert wird, der Geschichte eine melodramatische und pathetische Note verleiht. Doch weit gefehlt. Denn wir haben es bei Sorj Chalandon mit einem virtuosen Schriftsteller zu tun, dem jegliche Gefühlsduselei fremd ist. Stattdessen schafft er es, mit wenigen Worten Gefühle zu kreieren, die bis ins Mark gehen. Lesen mit Kloß im Hals, darauf muss man sich bei ihm einstellen. Das Unausgesprochene ist bei ihm entscheidend. Bei ihm steht ganz viel zwischen den Zeilen. Er macht nicht nur wenige Worte, sondern ist auch ein Freund kurzer Sätze, die er fast schon stakkatohaft zu Papier bringt. Das macht beim Lesen atemlos.
Ich fasse zusammen: Kloß im Hals, Atemlosigkeit, Gefühle, die bis ins Mark gehen. Ein unbeschreiblich gutes Buch von einem Ausnahme-Schriftsteller.
© Renie
"Jedes meiner Bücher entspricht einer Wunde" - ein Ausspruch des französischen Autors Sorj Chalandon. Und was soll ich sagen: Man nimmt es ihm ab. Wenn man einen Roman von Sorj Chalandon liest, kann man spüren, dass dieser mit Blut und Tränen geschrieben wurde. So auch sein aktuelles Buch "Am Tag davor".
In diesem etwa 300 Seiten starken Roman bringt der Autor so einiges unter:
Es ist eine Geschichte über den Bergbau in Frankreich
Es ist ein Justizroman
Es ist ein Roman über Schuld und Sühne
Der Roman beginnt im Jahr 1974, in einem Ort in Norden Frankreichs. Hier regiert der Bergbau. Familien, die hier leben, sind vom Bergbau geprägt. Kaum ein erwachsener Mann, der nicht Untertage in die Zeche Saint-Amé einfährt. Auch wenn die Familie des 14-jährigen Michel Flavent (Ich-Erzähler) bis jetzt von der Landwirtschaft gelebt hat, wird auch sie in den Bann des Bergbaus gezogen. Ein Onkel von Michel ist vor einigen Jahren bei einem Zechenunglück ums Leben gekommen. Nun findet Michels älterer Bruder Jojo eine Anstellung Untertage. Welche beruflichen Möglichkeiten haben auch junge Männer in dieser Gegend? Früher oder später landen sie alle in der Zeche. Es passiert das, was passieren muss. Jojo kommt während eines Grubenunglücks mit 42 andern Bergleuten ums Leben. Ein traumatisches Ereignis für die Familie. Michel kann den Tod seines Bruders nicht verarbeiten. Dazu trägt auch die Tatsache bei, dass kaum einer der Verantwortlichen für dieses Unglück zur Rechenschaft gezogen wurde. Zwanzig Jahre später kehrt Michel unerkannt in die Stadt zurück. Er will Rache nehmen und denjenigen, der für den Tod seines Bruders und seiner Kumpel verantwortlich ist, töten.
Es fällt mir schwer, in der Kürze diejenigen Dinge aufzuzählen, die mir an diesem Roman besonders gefallen haben.
Da ich seit gefühlten Ewigkeiten im Ruhrgebiet lebe, hat die Thematik "Bergbau" für mich einen besonderen Charme. Hier merkt man dem Autor den Journalisten an. Er hat akribisch recherchiert, entwickelt ein authentisches Bild des Zechenalltags und die Auswirkungen auf die Menschen. Einen wesentlichen Beitrag zur Authentizität leistet dabei die Bergarbeitersprache in diesem Buch. Das Leben der Stadt wird von der Zeche dominiert. Man kann förmlich den Kohlenstaub fühlen, riechen und schmecken.
Der Protagonist Michel Flavent. Als er den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen will, ist Michel mittlerweile in den Fünfzigern. Und meine Güte, was hat der Mann gelitten. Der Schmerz um den Verlust seines Bruders, zu dem er aufgeschaut hat, der ihm ein Freund und Vorbild war, verfolgt ihn. Michel hält es nach dem Tod seines Bruders zuhause nicht mehr lange aus. Er geht nach Paris. Und auch hier macht der Tod nicht vor den Menschen, die er liebt halt. Es ist herzzerreißend, wie sehr Michel der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Lediglich die Idee, den Mann, der für den Tod seines Bruders verantwortlich ist, zur Rechenschaft zu ziehen, scheint sein einziger Antrieb im Leben zu sein.
Nun sollte man meinen, dass so viel seelischer Schmerz, wie er hier geschildert wird, der Geschichte eine melodramatische und pathetische Note verleiht. Doch weit gefehlt. Denn wir haben es bei Sorj Chalandon mit einem virtuosen Schriftsteller zu tun, dem jegliche Gefühlsduselei fremd ist. Stattdessen schafft er es, mit wenigen Worten Gefühle zu kreieren, die bis ins Mark gehen. Lesen mit Kloß im Hals, darauf muss man sich bei ihm einstellen. Das Unausgesprochene ist bei ihm entscheidend. Bei ihm steht ganz viel zwischen den Zeilen. Er macht nicht nur wenige Worte, sondern ist auch ein Freund kurzer Sätze, die er fast schon stakkatohaft zu Papier bringt. Das macht beim Lesen atemlos.
Ich fasse zusammen: Kloß im Hals, Atemlosigkeit, Gefühle, die bis ins Mark gehen. Ein unbeschreiblich gutes Buch von einem Ausnahme-Schriftsteller.
© Renie