Rezension Rezension (4/5*) zu Schwindende Schatten: Roman von Antonio Muñoz Molina.

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.639
4.795
49
62
Essen
Buchinformationen und Rezensionen zu Schwindende Schatten: Roman von Antonio Muñoz Molina
Kaufen >
Die Schatten von Autor und Romanheld in Lissabon

Mit „Schwindende Schatten“ legt uns Antonio Munoz Molina einen Roman vor, in dem er vom Schaffensprozess eines Romans berichtet und gleichzeitig den geschaffenen Roman selbst vorlegt. Und das in alternierenden Kapiteln, d.h. abwechselnd beschäftigen wir uns (in den Kapiteln mit ungerader Nummerierung) mit dem quälend voranschreitenden Schaffen eines Romans inmitten eines aufreibenden bzw. ernüchternden Privatlebens aus langweiligem Job und beziehungsarmem Familienleben, während wir in den Kapiteln mit gerader Nummerierung den Attentäter von Martin Luther King auf einem Abschnitt seiner Flucht vor der polizeilichen Verfolgung – in Lissabon – begleiten. Allerdings: um welchen Flüchtenden es sich hier handelt und aus welchem Grund er flüchtet, das erfährt der Leser zunächst und für eine sehr lange Zeit dieses Romans von insgesamt gut 500 Seiten ausschließlich aus dem Klappentext, der sich bei diesem Buch deshalb einmal als schier unerlässlich darstellt.
Die Verschachtelung im Roman wird noch dadurch potenziert, dass der Schaffensprozess nicht nur des aktuellen Romans zum Thema gemacht wird, sondern zusätzlich auch der Schaffensprozess von Molinas erstem Roman „Der Winter in Lissabon“, mit dem der spanische Schriftsteller 1987 bekannt wurde. Lissabon wird so zum verbindenden Element der Geschichten: Dort recherchiert der Schriftsteller, dort spielt der erste Roman, dorthin verschlägt es für einige Zeit James Earl Ray, den Attentäter. Und doch bleibt Lissabon während des gesamten Romans schattenhaft verschwommen und tritt dem Leser nur selten konkret vor Augen. Viel Konkretes wird überhäuft und verschüttet von der Detailverliebtheit des Autoren, den nicht vordringlich die großen Linien des Geschehens und die Sinngebung interessieren, sondern viel eher die kleinen Beobachtungen am Rande.
„Es gibt kein in der Schlaflosigkeit wiedergefundenes Informationsteilchen, das nicht denkwürdig wäre.“
Und so erfahren wir z.B. sehr genau, was ein Zimmermädchen zum Zeitpunkt des Schusses auf King tat und was es fallen ließ, eher denn wie King selbst getroffen wurde und starb.
Diese Detailverliebtheit führt zu einem auf Aneinanderreihungen und Verkettungen von Einzelheiten aufgebauten Schreibstil, der den Leser auf einen langen Weg der Sinnsuche schickt. Das liest sich in erster Linie ungeordnet, sprunghaft und führt zu Ratlosigkeit. Hier ein Beispiel:
„In ‚James Bond jagt Dr. No‘ erwacht Bond an einem Karibikstrand und erblickt von hinten eine nackte Frau, die nichts als einen Harpunenhalfter trägt. Falknerei ist die Kunst der Jagd mit abgerichteten Falken. Der Fachbegriff für das, was man gewöhnlich "Fliegende Untertassen" nennt, ist Unidentifiziertes Flug-Objekt. Er las Bücher über Yoga und Hypnose ....."

FAZIT:
Das klingt alles sehr kompliziert, und das ist es auch. Der Leser ist in diesem Roman sehr gefordert, will er dem Geschehen folgen und gleichzeitig die besondere Erzählform und -weise von Molina begreifen. Er wird für seine Mühe allerdings immer wieder belohnt durch die erzählerischen Perlen, die sich in Molinas Schreibstil wie in gesunden, kräftigen Austern ausbilden können.
Dennoch muss ich am Ende sagen: Molina mit seinem besonderen Schreibstil erscheint mir eher als ein Meister für kleinere Formen. Der Zusammenhalt der Erzählstränge in diesem Roman jedenfalls ist ihm hier nach meiner Auffassung nicht wirklich gelungen. Lissabon bleibt als verbindendes Element schwach und unscharf. Und dennoch war ich bis zum letzten Kapitel interessiert in die Lektüre vertieft und mit der Frage beschäftigt, ob sich ein wirksamer Zusammenhalt dann doch noch ergibt. Deshalb vergebe ich für diesen Roman / dieses Romanexperiment 4/5 Sterne.
Ich werde mir auf jeden Fall interessiert weitere Romane von Molina anschauen.


 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.450
49.904
49
Liebe @Anjuta,
Danke für diese Rezension. Ich kann mir das Buch nun sehr gut vorstellen. Es scheint eine wahre Herausforderung zu sein. Nach der Vorstellung für die Leserunde und ein bisschen Recherche über Moliña war mir klar, dass das nichts für mich persönlich ist. Schön, dass du belohnt wurdest mit "lit. Perlen".
Die ausgewählte Textstelle ergibt ja gar keinen Sinn. Das scheint "höhere Literatur" zu sein ;)