1. Leseabschnitt: Anfang bis Kapitel 5 (Anfang bis S. 84)

KrimiElse

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So, den ersten Abschnitt habe ich durch. Ich hatte etwas Schwierigkeiten, in den Roman hineinzukommen. Durch den von @Sassenach123 angesprochenen Perspektivwechsel brauchte ich rund 40 Seiten, um den Zusammenhang zu erfassen.

Man kann das Buch definitiv nicht "verschlingen". Die Autorin beschreibt die Geschichte ihrer Figuren sehr eindringlich. Es gibt nur wenige Dialoge bislang. Ich kann mir die Orte der Handlung und die geschilderten Schicksale sehr gut vorstellen. Sie gehen mir nah.

Der betagte Leo lebt in einem Kibbuz in Israel. Er ist zusammen mit seiner Enkeltochter Nira angereist, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Berlin kommt ihm fremd und vertraut gleichermaßen vor. Immer wieder gleitet er in Erinnerungen ab, die wunderbar geschildert werden, auch wenn es überwiegend tragische Ereignisse sind. Schließlich lebte er als U-Boot, also als Untergetauchter, in der Stadt, in der er seinen besten Freund Manfred und seine Familie einst verlor.

Immer wieder begegnet ihm Laila, eine junge Frau, die aus Polen stammt, aber auch deutsche Wurzeln hat. Sie gehört zum Volk der Roma. Laila wohnt heute in dem Haus, das Leo damals als Zuflucht und Versteck diente.

Dort lebt heute noch Gertrud Romberg. Sie scheint die damalige Freundin seines Freundes Manfred zu sein, der 1943 von der Gestapo erwischt worden war und in Folge ein schlimmes Ende genommen hat. Bis jetzt scheut Leo davor zurück, Gertrud aufzusuchen.

Das Haus, das auch selbst zu Wort kommt, gehört heute einer skrupellosen Immobliengesellschaft, die versucht, die Wohnungen mit unlauteren Methoden zu entmieten, so dass die Bewohner auch aktuell Zukunftssorgen/Ängste haben.

Mir fällt positiv auf, dass die Autorin das gesamte Milieu des Wedding sehr gut einfangen kann. Die Figuren wirken authentisch. Bislang könnte ich noch keine Stereotype entdecken, obgleich wir es mit einer Fülle von Nationalitäten/Kulturen zu tun haben.

Die Enkeltochter Nira sorgt für ihr eigenes Vergnügen: die hat eine alte Liebschaft aufgewärmt, bei der sie auch die Nächte verbringt. Leo hat dazu ambivalente Gefühle: einerseits hat er sich die Reise anders vorgestellt, andererseits gönnt er der jungen Frau die Sorglosigkeit in der Stadt, die ihm selbst so sehr zu schaffen macht.

Erstes Urteil: Mein Daumen zeigt eindeutig nach oben!


Sehr schöne Zusammenfassung, es gibt nichts hinzuzufügen.

Mir ist noch aufgefallen, dass Leo bestimmt denkt, Gertrud hätte seinen Freund Manfred verraten, als er kurz vor Kriegsende erwisch5 wurde und im Gefängnis umkam (durch Bomben oder ermordet ist unklar)
Was ich ein bisschen seltsam finde ist, dass Rosa, Manfreds Schwester, kein Testament gemacht haben soll bzw. offenbar nie eine Rückforderung gestellt hat auf das Haus in der Utrechter Straße? Sie starb kinderlos in London, habe ich überlesen, wann das gewesen ist oder wurde es nicht erwähnt?

Ich habe trotz der Schwere, die über dem Geschehen hängt, das Gefühl, dass sich das Schicksal von einigen Menschen im Wedding wenden wird.
Erdrückt von der Gentrifizierung, unter Druck gesetzt von Immobilienhaien, die bedingt durch die Nähe zum Stadtbezirk Mitte (der in Berlin inzwischen absolut unbezahlbar geworden ist - ich kann mich noch gut an die Rumpelbuden dort bis Anfang der 2000er Jahre erinnern) richtig viel Geld machen wollen, stehen die meist alten oder ärmeren Bewohner ganz nahe am Abgrund. Das Leben in dieser Ecke Berlins ist übrigens so passend eingefangen. Der Gegensatz zwischen Inn-Kneipen und alten hilflosen Menschen auf der anderen Straßenseite...

Es ist erstaunlich, wie viel Lebensmut hinter den Geschichten der einzelnen Charaktere stehen. Es genügt schon ein kleiner Teil dessen, was eine der Figuren erleben musste, um zu verzagen. Aber Leo, Edith, Flora, Laila und Gertrud bleiben stehen und leben weiter. Leo sagt an einer Stelle sogar, dass es nur um die Zukunft geht (als er in Israel landete), geheult hat er nach dem Krieg nur in der Synagoge, und er konnte mit dem Gejammer der Besiegten nichts anfangen. Das treibt mir die Tränen in die Augen, ehrlich.
 
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Ich kenne wedding ja nicht, aber es scheint es dieser multikulturellen Viertel zu sein, von denen wir in Wien auch einige haben, vor denen sich die "besorgten Bürger und Politiker" fürchten und wo genau dort die Nachbarschaft sozial super aufgestellt ist und jeder von dem Durch- und Miteinander profitiert.
Ja, genauso ist es dort, die Leute kennen sich, soziale Netze unabhängig von der Familie sind gewachsen und funktionieren auch ganz gut.
Allerdings gibt es ehrlich gesagt ein paar Ecken, in die ich nachts auch nicht allein gehen würde. Die gibt es aber auch im vorwiegend deutschen Pankow, so wie in jeder Großstadt.
 
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Mir gefällt die Vielschichtigkeit dieses Romans. Hier werden die unterschiedlichsten Themen angesprochen und zu einem großen Ganzen verwoben:
Judentum während des Nationalsozialismus,die Entwicklung des Lebens in Israel, die jüngste Geschichte der Sinti und Roma, der Wandel des Viertels unter dem Einfluss von Immobilienhaien, die Zusammengehörigkeit der Einwohner, Wedding als Dorf.
Und dann erhält die Handlung noch einen geheimnisvollen Aspekt: Welche Rolle hat Gertrud damals bei der Verhaftung von Manfred gespielt?
Ich bin auf das erste Zusammentreffen von Leo und Gertrud nach der langen Zeit gespannt und freue mich aufs Weiterlesen.
Ich fand das auch sehr interessant, wie einzelne Fäden gesponnen werden und sich letztlich im Haus in der Utrechter Straße treffen.
Mir gefällt sehr, dass man in kleinen Blitzlichtern zunächst in ein paar Wohnungen schaut und gar nicht genau weiß, wo man ist. Das fügt sich erst später, und ich denke, dass auch jetzt noch nicht alle Enden der Geschichte begonnen sind.
Ich denke auch, dass eine wirklich gute Recherchearbeit hinter dem Roman steckt. Bei den wenigen Sachen, bei denen ich im Netz quergelesen habe, wurde ich immer fündig. Ich möchte ein bisschen nachforschen zu Pogromen in Polen, dazu weiß ich eigentlich gar nichts. Mir sind nur Verfolgungen durch Stalin ein Begriff.

Übrigens: so ordentlich, behördentreu, deutsch ist die Ablehnung der Ausgleichszahlungen für Floras Vater, das macht wütend. (und vor allem könnte der Brief auch aus heutiger Zeit stammen - dem Wortlaut nach gruselig)
Wird eigentlich immer noch auf diese Art mit solchen Anfragen umgegangen? Dass es einen Tag X gibt, ab dem es z.B. als Verfolgung galt, davor waren Internierte der Nazis einfach nur kriminell?

Und noch etwas:
Szinti und Roma wurden nicht nur in Polen abgelehnt. Ich kann mich an Urlaub mit meinen Eltern in Ungarn erinnern. Dort gab es viele damals abfällig genannte Zigeuner, und die Freunde meiner Eltern schimpften uns Kinder aus, weil wir den bettelnden Kindern Süssigkeiten gaben. Das war Anfang der 80er Jahre, als es in Ungarn schon deutliche Klassenunterschiede und auch Altersarmut zu spüren gab. Doch die landläufige Meinung stempelte Szinti- und Roma-Familien als faule arbeitsscheue Diebe ab, die wirklich überall unbeliebt waren. Ich konnte dass damals gar nicht verstehen.
 
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Erwähnen muss man noch Walter Wagnitz, der vor dem besagten Haus umgebracht wurde. Wir erfahren zwar, dass die Straße zwischendurch auch mal Wagnitz-Straße hieß, mehr aber nicht.
Walter Wagnitz hat es wirklich gegeben. Er gehörte der Hitlerjugend an und sein Tod muss der Auslöser für ein radikales Vorgehen gegen die dort wohnenden Juden und Zigeuner gewesen sein. Er starb quasi einen Märtyrertod...
Das hatte ich auch nachgeschlagen, danke fürs Aufschreiben.
 

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Das gibt meine Empfindungen beim Lesen gut wieder. Eine erstaunliche Vielschichtigkeit, und auch in diesem Roman wird nicht geradlinig erzählt. Insgesamt fasst jedoch letztlich alles ineinander und stellt sich dar wie ein buntes Kaleidoskop kleiner Mosaiksteine, die aus persönlichen Geschichten und Erinnerungen ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Die wesentlichen Personen sind nun wohl vorgestellt, Wedding damals und heute ist skizziert, die Schicksale angerissen. Und über allem liegt ein feingeistiger Hauch von Melancholie... Ich bin sehr neugierig, wie es weitergeht.
ich hoff sehr, dass es nicht noch kleinere Steinchen werden, denn irgendwie muss ich der Geschichte auch folgen können...
Die Melancholie habe ich auch ganz deutlich wahrgenommen, trotz des großen Lebensmutes schwebt sie über dem Geschehen.
 
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Wedding scheint ein Dorf zu sein. Man läuft sich hier ständig über den Weg. Obwohl wir uns mitten in der Großstadt befinden, fehlt hier die Anonymität. Man kennt sich untereinander. Und es wird gemenschelt. Sehr schön fand ich die Szene in einem Café: Eine Bedienung gibt einem "verwirrten" Mann etwas zu essen und einen Tee aus. Der Mann gehört wohl zum Straßenbild. Seine Familie setzt ihn tagsüber auf die Straße, damit er zuhause nichts anstellt. Ok, das "Auf-die-Straße-Setzen" ist fragwürdig. Aber das Vertrauen der Familie in die Nachbarschaft ist besonders. Sie verlassen sich darauf, dass man sich um den Mann kümmert. Was wohl auch geschieht.
das habe ich in Berlin schon ganz häufig gesehen, dass Menschen einfach etwas zu essen und zu trinken in Kneipen oder Spätverkaufsstellen bekommen. Abgerissene Menschen, die gescheitert oder obdachlos sind, oder einfach in ihrer Wohnung verwahrlosen, gehören zum Straßenbild, in manchen Stadtbezirken mehr als in anderen. Und der „Kiez“ ist ein bisschen wie ein Dorf von wenigen Straßenzügen innerhalb der Großstadt, wo alles wieder persönlicher ist, wo sich die Nachbarn kennen und ein bisschen aufeinander aufpassen, wo auch einsame und verwahrloste ein bisschen mehr aufgehoben sind als mitten im unpersönlichen Trubel. Zum Beispiel wohnen Freunde von mir seit Jahren in ihrem Karré nahe Boxhagener Platz (Friedrichshain) und würden aus genau diesem Grund nie dort wegziehen.
 
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