1. Leseabschnitt: Anfang bis Kapitel 5 (Anfang bis S. 84)

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Auch wenn ich den Abschnitt noch nicht ganz beendet habe, bin ich doch bereits angetan von der Handlung.
Wir erleben die Geschichte von drei Personen, die zumindest zeitweise in einem Haus des Berliner Stadtteil Wedding gewohnt haben. Das Haus selbst gibt seine Eindrücke wieder, eine nette Idee, denn was dort hinter den Wänden geschieht bleibt einem ja sonst oft verborgen. Durch diese Perspektive fühle ich mich ein wenig wie ein intimer Beobachter.
Die Personen von denen wir hier erfahren hatten es nicht leicht. Leo als Jude musste sich damals häufig verstecken, war auf Menschen angewiesen, die ihm helfen.
Laila, die einer Sintifamilie entstammt hat uns ebenfalls viel zu berichten.
Von Gertrud weiß ich bisher nur, dass sie immer dort gewohnt hat, dass sie quasi das Herzstück dieses Hauses ist, alles weitere erfahre ich hoffentlich bald auf den nächsten Seiten des Abschnitts. Werden Leo, der um einige Angelegenheiten zu regeln, wieder in seine alte Heimat gekommen ist, und Gertrud sich treffen?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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So, den ersten Abschnitt habe ich durch. Ich hatte etwas Schwierigkeiten, in den Roman hineinzukommen. Durch den von @Sassenach123 angesprochenen Perspektivwechsel brauchte ich rund 40 Seiten, um den Zusammenhang zu erfassen.

Man kann das Buch definitiv nicht "verschlingen". Die Autorin beschreibt die Geschichte ihrer Figuren sehr eindringlich. Es gibt nur wenige Dialoge bislang. Ich kann mir die Orte der Handlung und die geschilderten Schicksale sehr gut vorstellen. Sie gehen mir nah.

Der betagte Leo lebt in einem Kibbuz in Israel. Er ist zusammen mit seiner Enkeltochter Nira angereist, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Berlin kommt ihm fremd und vertraut gleichermaßen vor. Immer wieder gleitet er in Erinnerungen ab, die wunderbar geschildert werden, auch wenn es überwiegend tragische Ereignisse sind. Schließlich lebte er als U-Boot, also als Untergetauchter, in der Stadt, in der er seinen besten Freund Manfred und seine Familie einst verlor.

Immer wieder begegnet ihm Laila, eine junge Frau, die aus Polen stammt, aber auch deutsche Wurzeln hat. Sie gehört zum Volk der Roma. Laila wohnt heute in dem Haus, das Leo damals als Zuflucht und Versteck diente.

Dort lebt heute noch Gertrud Romberg. Sie scheint die damalige Freundin seines Freundes Manfred zu sein, der 1943 von der Gestapo erwischt worden war und in Folge ein schlimmes Ende genommen hat. Bis jetzt scheut Leo davor zurück, Gertrud aufzusuchen.

Das Haus, das auch selbst zu Wort kommt, gehört heute einer skrupellosen Immobliengesellschaft, die versucht, die Wohnungen mit unlauteren Methoden zu entmieten, so dass die Bewohner auch aktuell Zukunftssorgen/Ängste haben.

Mir fällt positiv auf, dass die Autorin das gesamte Milieu des Wedding sehr gut einfangen kann. Die Figuren wirken authentisch. Bislang könnte ich noch keine Stereotype entdecken, obgleich wir es mit einer Fülle von Nationalitäten/Kulturen zu tun haben.

Die Enkeltochter Nira sorgt für ihr eigenes Vergnügen: die hat eine alte Liebschaft aufgewärmt, bei der sie auch die Nächte verbringt. Leo hat dazu ambivalente Gefühle: einerseits hat er sich die Reise anders vorgestellt, andererseits gönnt er der jungen Frau die Sorglosigkeit in der Stadt, die ihm selbst so sehr zu schaffen macht.

Erstes Urteil: Mein Daumen zeigt eindeutig nach oben!
 

Sassenach123

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Nun bin auch ich komplett durch, und ich muss sagen, du hast alles hervorragend zusammengefasst.
Die Handlung um Manfred und seine Schwester Rosa hat mich persönlich sehr mitgenommen. Für Getrud ist es immer noch schwer zu ertragen, auch nach so langer Zeit mag sie nicht darüber reden. Verständlich!
Nora und Amir, das kann ich noch nicht ganz greifen, aber bei den Gefühlen Leos in dieser Hinsicht bin ich ganz bei dir.
Interessant fand ich auch die Mieterversammlung. Musste schmunzeln bei der Vorstellung wie alle sich in Gertruds Wohnung quetschen. Gertrud selbst ist ein wahrer Ausbund an Wissen, wenn es um das Haus geht. Kein Wunder, denn sie verbindet die längste Zeit damit
 
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Literaturhexle

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Nun bin auch ich komplett durch, und ich muss sagen, du hast alles hervorragend zusammengefasst.
Danke ;)
An sich bin ich nicht die große Zusammenfasserin, aber ich brauchte das jetzt wirklich, um ein bisschen Struktur in meinen Kopf zu bekommen. Es tauchen ja auch noch allerlei weitere Namen auf, die ich bis jetzt aber als untergeordnet einschätze. Es scheint gut zu sein, dass wie eine Leserunde haben!

Gerade habe ich noch entdeckt, dass es ab Seite 409 ein Glossar zu den wichtigsten Personen gibt. Sehr hilfreich!
 
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Literaturhexle

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Erwähnen muss man noch Walter Wagnitz, der vor dem besagten Haus umgebracht wurde. Wir erfahren zwar, dass die Straße zwischendurch auch mal Wagnitz-Straße hieß, mehr aber nicht.
Walter Wagnitz hat es wirklich gegeben. Er gehörte der Hitlerjugend an und sein Tod muss der Auslöser für ein radikales Vorgehen gegen die dort wohnenden Juden und Zigeuner gewesen sein. Er starb quasi einen Märtyrertod...
 
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Sassenach123

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Erwähnen muss man noch Walter Wagnitz, der vor dem besagten Haus umgebracht wurde. Wir erfahren zwar, dass die Straße zwischendurch auch mal Wagnitz-Strase hieß, mehr aber nicht.
Walter Wagnitz hat es wirklich gegeben. Er gehörte der Hitlerjugend an und sein Tod muss der Auslöser für ein radikales Vorgehen gegen die dort wohnenden Juden gewesen sein. Er starb quasi einen Märtyrertod...
Gut, dass du das erwähnst, ich wusste es nicht. Ich habe zwar mitbekommen, dass die Utrechter Straße früher mal so hieß, habe das aber nicht weiter verfolgt.
 
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Wir erleben die Geschichte von drei Personen, die zumindest zeitweise in einem Haus des Berliner Stadtteil Wedding gewohnt haben. Das Haus selbst gibt seine Eindrücke wieder, eine nette Idee, denn was dort hinter den Wänden geschieht bleibt einem ja sonst oft verborgen. Durch diese Perspektive fühle ich mich ein wenig wie ein intimer Beobachter.
Ich bin mit dem ersten Abschnitt noch nicht durch, lese daher Eure Beiträge später. Nur soviel zum Anfang: mir hat die Idee, aus dem Haus einen Protagonisten zu machen, großartig gefallen. Sehr originell :)
 

ulrikerabe

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Ich bin mit dem ersten Abschnitt noch nicht durch, lese daher Eure Beiträge später. Nur soviel zum Anfang: mir hat die Idee, aus dem Haus einen Protagonisten zu machen, großartig gefallen. Sehr originell :)
Das Haus zum Erzähler zu machen finde ich auch sehr gelungen. Später mehr, ich bin auch noch nicht durch mit diesem Abschnitt.
 

Sassenach123

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Ich bin mit dem ersten Abschnitt noch nicht durch, lese daher Eure Beiträge später. Nur soviel zum Anfang: mir hat die Idee, aus dem Haus einen Protagonisten zu machen, großartig gefallen. Sehr originell :)
Es hat mich ein wenig an das Gefühl erinnert, als ich damals "Die Bücherdiebin" las......auch wenn dort der Tod seine Eindrücke preisgab, fühlte ich mich hier ähnlich
 
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Immer wieder begegnet ihm Laila,
Wedding scheint ein Dorf zu sein. Man läuft sich hier ständig über den Weg. Obwohl wir uns mitten in der Großstadt befinden, fehlt hier die Anonymität. Man kennt sich untereinander. Und es wird gemenschelt. Sehr schön fand ich die Szene in einem Café: Eine Bedienung gibt einem "verwirrten" Mann etwas zu essen und einen Tee aus. Der Mann gehört wohl zum Straßenbild. Seine Familie setzt ihn tagsüber auf die Straße, damit er zuhause nichts anstellt. Ok, das "Auf-die-Straße-Setzen" ist fragwürdig. Aber das Vertrauen der Familie in die Nachbarschaft ist besonders. Sie verlassen sich darauf, dass man sich um den Mann kümmert. Was wohl auch geschieht.
 

Renie

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Mir gefällt die Vielschichtigkeit dieses Romans. Hier werden die unterschiedlichsten Themen angesprochen und zu einem großen Ganzen verwoben:
Judentum während des Nationalsozialismus,die Entwicklung des Lebens in Israel, die jüngste Geschichte der Sinti und Roma, der Wandel des Viertels unter dem Einfluss von Immobilienhaien, die Zusammengehörigkeit der Einwohner, Wedding als Dorf.
Und dann erhält die Handlung noch einen geheimnisvollen Aspekt: Welche Rolle hat Gertrud damals bei der Verhaftung von Manfred gespielt?
Ich bin auf das erste Zusammentreffen von Leo und Gertrud nach der langen Zeit gespannt und freue mich aufs Weiterlesen.
 

Literaturhexle

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Mir gefällt die Vielschichtigkeit dieses Romans.
Sehr gut zusammengefasst.
Und dann erhält die Handlung noch einen geheimnisvollen Aspekt:
Das interessiert mich auch sehr. Im zweiten Abschnitt kommt diese Handlung ins Stocken, da habe ich mich ein bisschen quälen müssen. Vielleicht liegt das aber wieder an meinem langsamen Lesen? Du wirst sehen/lesen, was ich meine.
 
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ulrikerabe

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Wedding scheint ein Dorf zu sein.
Ich kenne wedding ja nicht, aber es scheint es dieser multikulturellen Viertel zu sein, von denen wir in Wien auch einige haben, vor denen sich die "besorgten Bürger und Politiker" fürchten und wo genau dort die Nachbarschaft sozial super aufgestellt ist und jeder von dem Durch- und Miteinander profitiert.
 
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KrimiElse

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Ich habe begonnen zu lesen (diese Woche war bei mir äußerst lebendig, und ich konnte leider nicht wirklich lesen) und dank der Vorwarnung von @Literaturhexle zunächst das Personenverzeichnis gelesen. Ich stecke noch im ersten Kapitel, möchte aber bevor ich weiter lese und nach euren Beiträgen heute später schaue unbedingt loswerden, dass es mir ausgezeichnet gefällt, wie Regina Scheer erzählt. Ich bin in der Utrechter Straße, in der Liebenwalder Straße und nahe bei Leo, der rückblickend erzählt.
Es ist für mich immer wieder beeindruckend zu lesen, wie Autoren es schaffen, die unglaublich schrecklichen Dinge, die den Verfolgten des Naziregimes passierten, zu erzählen, ohne dass man das Buch vollheult. Es ist kalt beim Lesen, ja, und Leo ist nach dem Krieg einsam und hat alles verloren, aber er sprüht auch vor Lebensfreude, tanzt lieber anstatt zu jammern. Wunderbar geschrieben, ohne erhobenen Zeigefinger, und ich glaube, dass vielleicht sogar die nebenbei erwähnten Personen (der 1933 erschossene SPD-Arbeiter Segebrecht zum Beispiel) tatsächlich lebten.
Denn die Gebäude gibt es, das Hotel in der Liebenwalder 22 habe ich mir im Netz angeschaut, die Eckkneipe an der Liebenwalder ebenso.
Ich fahre übrigens sehr häufig nur zwei Querstraßen parallel zur Utrechter entlang, wenn ich zu meiner Schwester in Berlin unterwegs bin. Nächstes Mal mache ich einen kleinen Schlenker. Hier hat der Wedding noch etwas Kiezhaftes, weiter nördlich mag ich diesen Stadtteil nicht besonders.
 

Literaturhexle

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parden

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13. April 2014
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Mir gefällt die Vielschichtigkeit dieses Romans. Hier werden die unterschiedlichsten Themen angesprochen und zu einem großen Ganzen verwoben:
Judentum während des Nationalsozialismus,die Entwicklung des Lebens in Israel, die jüngste Geschichte der Sinti und Roma, der Wandel des Viertels unter dem Einfluss von Immobilienhaien, die Zusammengehörigkeit der Einwohner, Wedding als Dorf.
Und dann erhält die Handlung noch einen geheimnisvollen Aspekt: Welche Rolle hat Gertrud damals bei der Verhaftung von Manfred gespielt?
Ich bin auf das erste Zusammentreffen von Leo und Gertrud nach der langen Zeit gespannt und freue mich aufs Weiterlesen.
Das gibt meine Empfindungen beim Lesen gut wieder. Eine erstaunliche Vielschichtigkeit, und auch in diesem Roman wird nicht geradlinig erzählt. Insgesamt fasst jedoch letztlich alles ineinander und stellt sich dar wie ein buntes Kaleidoskop kleiner Mosaiksteine, die aus persönlichen Geschichten und Erinnerungen ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Die wesentlichen Personen sind nun wohl vorgestellt, Wedding damals und heute ist skizziert, die Schicksale angerissen. Und über allem liegt ein feingeistiger Hauch von Melancholie... Ich bin sehr neugierig, wie es weitergeht.
 
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