Rezension Rezension (5/5*) zu Am Tag davor: Roman von Sorj Chalandon.

Leseglück

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7. Juni 2017
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Gerechtigkeit für die toten Kumpel?

Sorj Chalandor war ein junger Mann als sich am 27.12.1974 in Nordfrankreich ein schweres Grubenunglück ereignete, bei dem 42 Bergmänner starben. Damals war viel von Schicksal die rede, so als ob der Tod im Schacht zum Beruf des Kumpels einfach dazu gehören würde. In Wahrheit hätte das Grubenunglück vermieden werden können, denn die Sicherheitsmaßnahmen waren aus Kostengründen vernachlässigt worden.
Den Journalisten und Romanautor Sorj Chalandor lässt diese Katastrophe auch nach über 40 Jahren nicht los, wie er in einem Interview zu seinen neuen Roman: "Am Tag davor" berichtet. Chalandor führt uns Leser*innen in seinem Roman noch einmal zurück zu dem Tag vor der Explosion in diesem Bergwerk.
In Lievin, einer Bergarbeiterstadt lebt man seit Generationen vom Kohlebergbau. Mit wenigen aber kräftigen Pinselstrichen zeichnet der Autor ein Bild vom Leben der Bergmänner. Da ist vom Lied der Fördertürme die Rede, von den müden Blicken der Männer nach der Schicht, von ihrer auf Lebzeiten von schwarzen Splittern durchbohrter Haut. Man erkennt die alten Bergleute daran, dass sie nach Luft schnappen, an ihren kaputten Rücken, den tauben Ohren aber auch an ihrem Stolz.

In der (fiktiven) Bauernfamilie Flavent, entschließt sich der älteste Sohn Joseph, Bergman zu werden. Dessen keiner Bruder, Michel steht im Zentrum des Romans als Ich-Erzähler. Im Alter von 16 Jahren muss Michel erleben, wie sein, von ihm vergötterter, Bruder einige Tage nach dem Grubenunglück schwer verletzt im Krankenhaus stirbt.

Michel kommt nie über den Tod des geliebten Bruders hinweg. Zwar lebt er äußerlich ein normales Leben. Er zieht nach Paris, heiratet und arbeitet als LKW Fahrer. Sein Wesen ist jedoch vom Tod des Bruders geprägt: So hat er sich eine Garage gemietet, in der er - wie Reliquien - Schriften und Gegenstände im Zusammenhang mit seinem Bruder und dem Unglück sammelt. Als seine Frau an Krebs stirbt, kehrt er, inzwischen über 60 Jahre alt, wieder nach Lievin zurück. Er plant Rache zu nehmen an den Verantwortlichen des Grubenunglücks.

Faszinierend an dem Roman von Sorj Chalandor ist nicht nur die Sprache, die in knappen Sätzen viel Gefühl transprotieren kann, sonder auch und besonders dessen Vielschichtigkeit. Es geht nicht nur um die Gründe für das Grubenexplosion und dem Gedürfnis nach Rache. Es geht um Schuldgefühle und deren verheerende Auswirkungen auf das Leben der Protagonisten. Hier hält der Roman einen besonderen Twist bereit, der an dieser Stelle natürlich nicht beschrieben wird. Man ringt als Leser*in mit der Frage, ob man das Anfangs vorhandene Mitgefühl mit Michel weiter aufrecht erhalten kann, oder ob man sein Verhalten ablehen sollte. Nicht zuletzt dadurch bleibt die Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd.

"Am Tag davor" ist ein vielschichtiger und packender Roman. Unbedingt empfehlenswert.




 

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