Rezension Rezension (5/5*) zu Am Tag davor: Roman von Sorj Chalandon.

Literaturhexle

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Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.068
49
Schuld, Sühne und die Wahrheit hinter dem Schicksal

Am 27. Dezember 1974 gab es auf der Zeche Saint-Amé in Frankreich ein schweres Grubenunglück, bei dem 42 Bergleute ums Leben gekommen sind. Diese reale Katastrophe hat den Autor im vorliegenden Roman veranlasst, ein 43. Opfer, nämlich Joseph Flavent, hinzu zu erfinden, um seine Geschichte zu erzählen. Ein Kunstgriff, den ich genial finde. Der komplette Roman wird aus der Sicht seines Bruders Michel Flavent erzählt.

Bereits im ersten Kapitel lernt man den 30-jährigen Joseph, genannt Jojo, bei einer übermütigen Mopedfahrt mit seinem 16-jährigen Bruder Michel kennen. Die beiden sind sich sehr zugetan, Michel hat sogar ein Zimmer in der Wohnung des Bruders, den er jederzeit besuchen darf und auf den er sehr stolz ist. Sehr berührend berichtet Michel von der gemeinsamen Kindheit auf dem Hof der Eltern und von Jojos Entschluss, im Bergbau zu arbeiten. Der Vater kämpfte gegen den Berufswunsch an, er erinnerte an die Gefahren und einhergehenden Krankheiten:

„Die Kohle wird dir Kummer machen. Auch wenn du nicht dabei draufgehst. Auch wenn du alles überlebst, den Staub, die unsicheren Ausbauten, die entgleisenden Hunte, das Wüten des Abbauhammers, die Eiseskälte bei der Ausfahrt. Auch wenn du mit beiden Beinen in Rente gehst, Joseph, wirst du die Dreckskohle doch nie loswerden. Ein Teil von dir wird unten bleiben. Du wirst eine Staublunge kriegen, Joseph. (…) Du bist dann vergiftet. Halb taub und halb tot.“ (S. 16)

Doch Joseph geht mit nur 20 Jahren in die Zeche. Er bleibt das Idol seines kleinen Bruders, der den sehnlichen Wunsch hegt, später den gleichen Weg einzuschlagen.

Am Morgen nach der geschilderten Mopedfahrt passiert das Schreckliche: es kommt zu einem großen Grubenunglück in Schacht 3b – dem Schacht, in dem Jojo arbeitet. Rund drei Wochen später verstirbt dieser an seinen Verletzungen. Diesen Verlust verwindet die Familie nicht:

„Ich war an Josephs Tod verwelkt. Meine Jugend war uralt geworden.
Ein Jahr nach dem Sohn verließ uns mein Vater. (…) Bei Tisch saßen wir nur noch zu zweit, die Minderheit der Lebenden. Das war kein Bauernhof mehr sondern ein Friedhof.“ (S. 28)

Mehr als merkwürdig erscheint dabei, dass der Name des Bruders nicht auf offiziellen Schreiben, Grabreden oder Gedenktafeln als Opfer des Grubenunglücks auftaucht.

Im März 2014 verliert Erzähler Michel auch noch seine Ehefrau Cècile an den Krebs. Sehr emotional wird der Verlust geschildert, der Michel im Anschluss vom Besiegten zum Krieger macht. Seit Jahren leidet er unter dem Verlust des Bruders, der Familie, unter der erlittenen Ungerechtigkeit. Das Grubenunglück wurde aus seiner Sicht nie umfassend juristisch und moralisch aufgeklärt. Den damaligen Verantwortlichen konnte keine Schuld nachgewiesen werden. Michel hat das nicht losgelassen. Er hatte seinen Zorn und Schmerz kultiviert und eine Garage angemietet, in der er Erinnerungsstücke an den Bergbau sowie an den toten Bruder wie Reliquien aufbewahrt und über Jahre verehrt.

Nach dem Tod seiner Frau macht er sich zu einem Rachefeldzug auf, um dem vermeintlichen Schicksal die Wahrheit entgegenzustellen. Dazu kehrt er inkognito in seinen Heimatort zurück und konfrontiert den aus seiner Sicht Schuldigen Obersteiger Dravelle mit den Vorwürfen, die Sicherheit der Zeche materiellen Interessen untergeordnet und damit das Grubenunglück verursacht zu haben… Auf der Suche nach der Schuld macht sich der Protagonist schließlich selbst zum Schuldigen...
Beim weiteren Lesen nimmt der Roman zunehmend Fahrt auf, wird regelrecht zum Pageturner um Schuld, Moral und Sühne. Überraschende Wendungen führen in eine völlig neue Wahrheit um die Vorkommnisse von 1974 und münden in einen Justizkrimi mit sagenhaft vielschichtigen Perspektiven.

Der Autor hat mit diesem ergreifenden Roman dem Bergbau ein Denkmal gesetzt. Herausragend ist seine Sprache: kurze, prägnante Sätze, die teilweise in der Luft hängen und ihre Wirkung voll entfalten. Die Formulierungen treffen ins Mark – völlig ohne Pathetik oder Kitsch wird die Würde der Bergarbeiter heraufbeschworen, wird die Uhr zurückgedreht in Lebensumstände, die wir heute nicht mehr kennen. Der Schmerz des hinterbliebenen Bruders wird fühlbar. Seinen Zwang, endlich nach Jahren etwas zu unternehmen, kann man zwar nachvollziehen, er macht ihn aber in seiner Konsequenz unberechenbar.

„Jedes meiner Bücher entspricht einer Wunde“, sagt der Autor über seine Werke. Für diesen Roman kann ich da zustimmen. Er macht mich unbedingt neugierig, noch mehr von Sorj Chalandon zu entdecken.

Ein Wahnsinnsbuch! Unbedingt lesen!


 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Für diese großartige Rezension kann ich einfach nur applaudieren. Du hast vor allem Textstellen herausgesucht, die so bezeichnend für die Geschichte und den Sprachstil sind, auch dafür Bravo!
Danke vielmals:rolleyes:
Ich selbst empfinde meine Rezensionen immer viel schlechter als eure...
Vielleicht ist das wie mit den Weihnachtsplätzchen : die der anderen schmecken auch IMMER besser als das Backwerk aus dem eigenen Ofen... ;)

Insofern tut mir das Lob wirklich gut :)
 
  • Haha
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