Fazit

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
49
62
Essen
Aus der Rückschau erscheint mir das Buch wie
EIN ROMAN ALS DENKMAL,​
ein Denkmal für alle, die in die Bergwerke einfahren mussten und unter schwierigsten Arbeitsbedingungen ihr Leben aufs Spiel gesetzt oder es sogar verloren haben. 40 Jahre sind vergangen seit der Katastrophe von Saint-Amé, aber weder Michel noch Dravelle haben damit abgeschlossen und warten noch auf eine Aufarbeitung bzw. arbeiten ganz aktiv daran. Und ähnlich sieht es auch bei der Rechtsanwältin Aude aus. Sie baut ihre Plädoyer ebenfalls auf der persönlichen Betroffenheit durch diese Arbeitswelt auf und auch sie sieht irgendwie in diesem Verfahren die Möglichkeit, ihrem Großvater und seiner verlorenen Gesundheit Gerechtigkeit oder zumindest ein gewisses Maß an Anerkennung gewähren zu können.
Und dem Autor selbst ging es genauso. Das war seine Motivation für den Roman. Als junger Journalist war er selbst vor Ort und hat über das Unglück berichtet, hatte aber wohl ständig das Gefühl, dass hier etwas nicht richtig und genügend vermittelt wurde und hat sich diesen Stoff Jahrzehnte später wieder vorgenommen. Auch er hatte wohl das Gefühl, hier noch ein DENKMAL setzen zu sollen/zu müssen.
Sein Kunstgriff, ein 43. Opfer zu erfinden, ist dabei besonders interessant: In dem Video, das @Renie uns empfohlen hatte, sagte Chalandon, er hätte auf keinen Fall aus der Sicht eines der tatsächlichen Opfer schreiben können, denn ganz klar wäre: irgendwann hätte er der Familie dieses Opfers gegenüber gestanden und dieser Situation hätte er nicht standhalten können. Also erfindet er eine wirklich interessante Variante der Geschichte mit dem Opfer Jojo, der für seinen Bruder und seine Eltern ganz ohne Zweifel Opfer der Zeche geworden ist. Immerhin: Er war Teil der Schicht, die hier in den Tod geschickt worden ist und wurde nur durch einen (un)glücklichen Zufall am Einfahren gehindert. Aber solidarisch fühlend mit den Opfern ist auch er unmittelbarer Teil dieser Katastrophe und wird von seiner Familie entsprechend in dieser Rolle verehrt und später gerächt.
Ich liebe das Buch mit seiner Haltung und seiner präzisen Charakterzeichnung. Und kann nur jedem gratulieren, der an dieser Leserunde teilgenommen hat. Und hoffe, ihr seht das ähnlich.
 

Renie

Moderator
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19. Mai 2014
5.858
12.454
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Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Und wieder hat mich Sorj Chalandon mit seiner Gabe, Gefühle und Stimmungen zu transportieren, ohne viele Worte zu machen, umgehauen. Er hat einen sehr speziellen Sprachstil: kurze Sätze, teilweise stakkatohafte Passagen. Da hält man oft beim Lesen die Luft an. Ich habe keine Ahnung, wie er es macht. Aber seine Sätze gehen durch und durch, ohne dass er die Dinge beim Namen nennt. Da steht ganz viel zwischen den Zeilen. Die Geschichte vermittelt eine tiefe Traurigkeit, die aber nie ins Kitschige abdriftet.
Die "Bergbau"-Thematik war hochinteressant, stand für mich jedoch nicht im Mittelpunkt. Viel mehr habe ich die Sprache genossen sowie die außergewöhnlich präzise Darstellung des Charakters Michel und seine Entwicklung.
Nach diesem Buch, welches mein zweites von Chalandon war, habe ich beschlossen, mit der Zeit auch seine anderen zu lesen. Der Mann hat es schriftstellerisch wirklich drauf.
 

KrimiElse

Bekanntes Mitglied
26. Januar 2019
2.861
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buchmafia.blogspot.com
Und wieder hat mich Sorj Chalandon mit seiner Gabe, Gefühle und Stimmungen zu transportieren, ohne viele Worte zu machen, umgehauen. Er hat einen sehr speziellen Sprachstil: kurze Sätze, teilweise stakkatohafte Passagen. Da hält man oft beim Lesen die Luft an. Ich habe keine Ahnung, wie er es macht. Aber seine Sätze gehen durch und durch, ohne dass er die Dinge beim Namen nennt. Da steht ganz viel zwischen den Zeilen. Die Geschichte vermittelt eine tiefe Traurigkeit, die aber nie ins Kitschige abdriftet.
Die "Bergbau"-Thematik war hochinteressant, stand für mich jedoch nicht im Mittelpunkt. Viel mehr habe ich die Sprache genossen sowie die außergewöhnlich präzise Darstellung des Charakters Michel und seine Entwicklung.
Nach diesem Buch, welches mein zweites von Chalandon war, habe ich beschlossen, mit der Zeit auch seine anderen zu lesen. Der Mann hat es schriftstellerisch wirklich drauf.
Dem kann ich mich wirklich nur anschließen.
Ich hatte im ersten Abschnitt schon geschrieben, wie beeindruckt ich von der Fähigkeit bin, mit knapper klarer Sprache so viele Gefühle beim Leser hervorzurufen, die Figuren so lebendig und rund zu machen und gleichzeitig eine so aufregende und spannende Geschichte zu erzählen.
Besonders gefiel mir, dass die Wirklichkeit der Geschehnisse nicht verfälscht wurde, die Würde und Grauer um den Verlust der Angehörigen der Opfer der Katastrophe ganz bewusst bewahrt wurde, indem hinsichtlich des Unglücks keinen Millimeter von der Wahrheit abgewichen wurde. Dennoch ist es keine Reportage sondern ein Roman mit einer weiteren fiktiven Handlung, die mindestens ebenso interessant und spannend ist wie die Geschichte des Unglücks, ohne diese in den Hintergrund und zum bloßen Setting zu machen. Ganz großen Applaus dafür, wie gut dies gelang.
Für mich ist es ein äußerst beeindruckendes, nachwirkendes Buch und es animiert auch mich, mehr von Sorj Chaladon zu lesen. Er kann es wirklich, das Schreiben.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
19.244
49.157
49
Ich bin auch tief beeindruckt von diesem Roman!
Er hat sich ganz anders entwickelt, als man zunächst hätte glauben mögen. Erst war alles schlüssig, wie Michel die Geschichte um den verlorenen Bruder erzählt hat. Dann taten sich Zweifel an der Darstellung auf, die dann in einem wirklich spannenden letzten Teil außergewöhnlich gut und ideenreich aufgelöst wurden.

Ja, und die Sprache? Zum Niederknien, wie ich in solchen Fällen sage! Tolle Passagen, eindrucksvolle Sätze. Dieses Buch konnte (und wollte) ich nicht schnell lesen. Das muss man genießen, durchatmen.

Ich stimme euch in allen genannten Kommentaren zu. Im Nachhinein macht das Video noch mehr Sinn!
Starkes Buch, starker Autor! Das wird eine klare 5-Sterne-Empfehlung!
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Die "Bergbau"-Thematik war hochinteressant, stand für mich jedoch nicht im Mittelpunkt
Für mich stand die Thematik "Schuld, Moral, Sühne" noch viel stärker im Vordergrund. Und Chalandons Sprache: GROSSES KINO MIT WENIGEN, PRÄZISEN WORTEN!!!! Auch für mich @Renie, ein Mysterium, wie er das hinkriegt.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Ist eigentlich irgendjemand dahinter gekommen, was es mit den "Leichen im Keller" der Anwältin auf sich hat?
Die Anwältin hatte ja von Anfang an Sympathie für Michel. Irgendwo machte sie eine Bemerkung im Sinne von "Sie ahnen nicht, wie gut ich Sie verstehe..."
Im Plädoyer erzählte sie dann die Geschichte ihres Großvaters, der sein Leben auch der Zeche gewidmet hatte. Dadurch waren sie und ihre Familie selbst von der Thematik betroffen.
Das hatte zumindest ich mit den Leichen gemeint.
 

KrimiElse

Bekanntes Mitglied
26. Januar 2019
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buchmafia.blogspot.com
Die Anwältin hatte ja von Anfang an Sympathie für Michel. Irgendwo machte sie eine Bemerkung im Sinne von "Sie ahnen nicht, wie gut ich Sie verstehe..."
Im Plädoyer erzählte sie dann die Geschichte ihres Großvaters, der sein Leben auch der Zeche gewidmet hatte. Dadurch waren sie und ihre Familie selbst von der Thematik betroffen.
Das hatte zumindest ich mit den Leichen gemeint.
Habe ich auch so verstanden, etwas anderes ist mir nämlich nicht aufgefallen.
Wobei ich den Ausdruck Leichen im Keller hier nicht gut finde, da ich zumindest damit etwas negatives verbinde, im Sinne von Schuld.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Der Roman hat mir sehr gut gefallen, einerseits gefielen mir die berührenden Momente und die Tiefe, der bei mir erzeugten Gefühle, andererseits gefiel mir die Geschichte Michels, mir gefiel zwar nicht seine Rachebereitschaft, aber deren Auftauchen wurde recht schlüssig erklärt. Gefallen hat mir besonders die Sprache, diese soooo schönen Sätze und Formulierungen. Und auch der Einbau einer Gesellschaftskritik hat mir sehr gefallen. Es war das erste Buch von Chalandon für mich, aber definitiv nicht das letzte. :)
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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buchmafia.blogspot.com
Ich habe eine Rezension geschrieben, aus der man hoffentlich meine Begeisterung für das Buch herauslesen kann.

Und im Netz gestreut...u.a. auf meinem Blog, bei div. OnlineBuchhändlern und in anderen Communities.
 
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Leseglück

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7. Juni 2017
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44
67
Ich kann euch in allem was geschrieben wurde nur zustimmen.
Der Roman ist ein Denkmal für die schreckliche Zeit des Bergbaus (die ja in den Jahrhunderten davor noch schlimmer war, man denke nur an die Kinder, die in England unter Tage arbeiten mussten...)
Aber nicht nur: Für mich stand eher der Umgang mit Trauer - und Schuldgefühlen im Vordergrund.

Interessant an dem Buch war eine Art Zweiteilung. Dem Leser werden im Grunde zwei Geschichten erzählt, zwei Wahrheiten...die miteinander kollidieren. Der Autor schafft es, dass man als Leser beide Geschichten zusammenbringt...einfach super.

Auch ich habe mir vorgenommen, weitere Bücher von Sorj Chalandon zu lesen!
"Am Tag davor" kann man nur weiterempfehlen. Auch von mir eine klare 5 bei meiner (noch zu schreibenden) Rezension
 

Anjuta

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8. Januar 2016
1.635
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Essen
Ich war mir über mein überschwenglich positives Urteil zu "Am Tag davor" ja schon wirklich sicher und keinesfalls wankelmütig. Trotzdem hat mich das klar positive Votum im Literarischen Quartett letzten Freitag gefreut und bekräftigt! Alle Vier waren ähnlich begeistert wie ich. Ein "großes Buch"!!!
 

Renie

Moderator
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19. Mai 2014
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Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ich war mir über mein überschwenglich positives Urteil zu "Am Tag davor" ja schon wirklich sicher und keinesfalls wankelmütig. Trotzdem hat mich das klar positive Votum im Literarischen Quartett letzten Freitag gefreut und bekräftigt! Alle Vier waren ähnlich begeistert wie ich. Ein "großes Buch"!!!
Mir ist nur aufgefallen, dass die 4 aus dem Quartett das Buch anders wahrgenommen haben als ich: für die TV-Experten stand der Inhalt im Vordergrund. Mit keiner Silbe ist auf den unglaublichen Sprachstil Chalandons eingegangen worden und seiner Fähigkeit, mit wenigen Worten soviel Gefühlsgewalt zu erschaffen. Hier wäre ich doch gern zu Wort gekommen.:cool:
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
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Essen
Mit keiner Silbe ist auf den unglaublichen Sprachstil Chalandons eingegangen worden und seiner Fähigkeit, mit wenigen Worten soviel Gefühlsgewalt zu erschaffen
So ganz gebe ich Dir nicht recht:
In meiner Erinnerung, kam das aber doch implizit auch bei den 4 immer wieder vor, zB wurde hervorgehoben, wie er es schafft, den Stolz der Bergleute zu schildern (Stichwort: Hasenbrot).
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.243
18.654
49
48
Aus der Rückschau erscheint mir das Buch wie
EIN ROMAN ALS DENKMAL,​
ein Denkmal für alle, die in die Bergwerke einfahren mussten und unter schwierigsten Arbeitsbedingungen ihr Leben aufs Spiel gesetzt oder es sogar verloren haben. 40 Jahre sind vergangen seit der Katastrophe von Saint-Amé, aber weder Michel noch Dravelle haben damit abgeschlossen und warten noch auf eine Aufarbeitung bzw. arbeiten ganz aktiv daran. Und ähnlich sieht es auch bei der Rechtsanwältin Aude aus. Sie baut ihre Plädoyer ebenfalls auf der persönlichen Betroffenheit durch diese Arbeitswelt auf und auch sie sieht irgendwie in diesem Verfahren die Möglichkeit, ihrem Großvater und seiner verlorenen Gesundheit Gerechtigkeit oder zumindest ein gewisses Maß an Anerkennung gewähren zu können.
Und dem Autor selbst ging es genauso. Das war seine Motivation für den Roman. Als junger Journalist war er selbst vor Ort und hat über das Unglück berichtet, hatte aber wohl ständig das Gefühl, dass hier etwas nicht richtig und genügend vermittelt wurde und hat sich diesen Stoff Jahrzehnte später wieder vorgenommen. Auch er hatte wohl das Gefühl, hier noch ein DENKMAL setzen zu sollen/zu müssen.
Sein Kunstgriff, ein 43. Opfer zu erfinden, ist dabei besonders interessant: In dem Video, das @Renie uns empfohlen hatte, sagte Chalandon, er hätte auf keinen Fall aus der Sicht eines der tatsächlichen Opfer schreiben können, denn ganz klar wäre: irgendwann hätte er der Familie dieses Opfers gegenüber gestanden und dieser Situation hätte er nicht standhalten können. Also erfindet er eine wirklich interessante Variante der Geschichte mit dem Opfer Jojo, der für seinen Bruder und seine Eltern ganz ohne Zweifel Opfer der Zeche geworden ist. Immerhin: Er war Teil der Schicht, die hier in den Tod geschickt worden ist und wurde nur durch einen (un)glücklichen Zufall am Einfahren gehindert. Aber solidarisch fühlend mit den Opfern ist auch er unmittelbarer Teil dieser Katastrophe und wird von seiner Familie entsprechend in dieser Rolle verehrt und später gerächt.
Ich liebe das Buch mit seiner Haltung und seiner präzisen Charakterzeichnung. Und kann nur jedem gratulieren, der an dieser Leserunde teilgenommen hat. Und hoffe, ihr seht das ähnlich.
Dem ist nichts hinzuzufügen...:cool: