Zweiter Teil: In Christminster

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.245
18.663
49
48
Beim Lesen ist mir gerade ein Zitat aus einem meiner Lieblingsfilme (Das letzte Einhorn) eingefallen: Wo bist du gewesen?
Diese Frage stelle ich mir in Richtung Thomas Hardy, der sich garantiert nach dem Ende der Lektüre auf meine Liste von Lieblingsschriftstellern schleicht, nein - mit Karacho dort landet.
Ich bin bisher absolut überwältigt von diesem Roman - der gibt einem so viel philosophisches, religiöses (auch wenn ich - trotz diakonischem Arbeitgeber - kein Ultragläubiger bin :cool:) mit auf den Weg :rolleyes:...Wenn das Jemandem hier übertrieben vorkommt - sorry, ich kann gerade nicht anders :D...
Bin jetzt auf S. 150 (Anfang 5. Kapitel).
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.196
49
Mein Eintrag von gestern ist leider dem schnoddrigen Internet zum Opfer gefallen :(
Jude hat sich wieder seinem Traum von Bildung zugewandt. Es scheint schon ein gutes Stück Gesellschaftskritik offenbar zu werden, wenn Jude den Unterschied zwischen den Studierenden und sich selbst wahrnimmt, obwohl sie ihm räumlich sehr nah sind:[zitat]Dennoch war er ihnen so fern, als lebte er auf der anderen Seite der Erde.[/zitat] Die Studenten sehen durch den Handwerker einfach hindurch. Er gilt nichts.

Erneut verrennt er sich in eine neue Liebe, in seine Cousine Sue. Bereits im 4. Kapitel lassen manche Sätze den Schluss zu, dass diese Liebe in einer Tragödie enden wird: von folgenschweren Vorboten und von einer düsteren unheilvollen Stelle des ersten Treffens ist die Rede...

Lehrer Phillotson hat den Aufstieg zum Pfarrer nicht geschafft. Das desillusioniert unseren Jude. Er bittet Professoren um Hilfe - doch auch die antworten nicht oder wollen unter sich bleiben.

Nach einer durchzechten Nacht ändert Jude seine Pläne und überlegt, künftig in der Kirche Dienst zu tun. Dieses aus weltlichem Ehrgeiz und wegen sozialer Unzufriedenheit - und nicht etwa wegen theologischer Begeisterung;)
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.245
18.663
49
48
Der Unterschied zwischen Jude und den Studierenden wird hier auch sehr deutlich [zitat]

„Erst jetzt, da er seinen Sehnsuchtsort tatsächlich erreicht hatte, erkannte Jude, wie weit er wirklich entfernt war von seinem ersehnten Ziel. Nur eine Mauer trennte ihn von seinen glücklichen jungen Zeitgenossen, deren Geistesleben er teilte; Männern, die von früh bis spät nichts anderes zu tun hatten als lesen, Notizen machen, lernen und geistig verdauen. Nur eine Mauer – aber was für eine!“ (S. 122/123)

[/zitat]

Irgendwie verfolgt mich die Mauer gerade...:confused::D.

Der Brief von dem Professor war ja auch böse, oder?

Der letzte Satz von Dir bzgl. theologischer Begeisterung wird am Anfang des 3. Abschnittes noch mal etwas deutlicher hervorgehoben.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.196
49
Eine schöne Textstelle hast du herausgesucht, @kingofmusic ! Davon wimmelt es im Buch geradezu.
Ja, mit Mauern hast du es gerade, aber scheint diese doch erfreulicher zu sein als jene auf der Insel ;)

Der Brief des Professors drückt die gesamte Arroganz der gebildeten Klasse aus - und die der Reichen. Schließlich scheint ein praller Geldbeutel die Voraussetzung für ein Studium zu sein. Es ist mir sowìeso ein Rätsel wie Jude das nächtliche Lernen nach einem anstrengenden Arbeitstag schaffen soll? Wir sprechen sicher nicht von einer 39-Stunden-Woche:confused:
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.245
18.663
49
48
Eine schöne Textstelle hast du herausgesucht, @kingofmusic ! Davon wimmelt es im Buch geradezu.
Ja, mit Mauern hast du es gerade, aber scheint diese doch erfreulicher zu sein als jene auf der Insel ;)

Der Brief des Professors drückt die gesamte Arroganz der gebildeten Klasse aus - und die der Reichen. Schließlich scheint ein praller Geldbeutel die Voraussetzung für ein Studium zu sein. Es ist mir sowìeso ein Rätsel wie Jude das nächtliche Lernen nach einem anstrengenden Arbeitstag schaffen soll? Wir sprechen sicher nicht von einer 39-Stunden-Woche:confused:
Na ja, wenn du wirklich von einem "Ziel" überzeugt bist, entwickelt man Kräfte, die man vorher nicht geglaubt hat zu haben. Wenn ich noch an die Zeit meiner Fernweiterbildung denke :rolleyes::D...
Aber hat sich an der Arroganz der Reichen (ich schließe jetzt die "gebildete Klasse" mal aus, denn ich zähle uns dazu und wir sind (nach meiner Beobachtung) hier alles andere als arrogant :D) im Lauf der Jahrhunderte verändert? Nein, im Gegenteil: es wird immer schlimmer...
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.196
49
Aber hat sich an der Arroganz der Reichen
Ich befürchte, so viel kann ich dazu nicht sagen, weil ich so viele nicht persönlich kenne :D. Auch da gibt es sonne und solche...

Die Zeiten haben sich insofern geändert, dass heute theoretisch jeder den sozialen Aufstieg schaffen kann. Dass man ein bildungsfernes oder freudloses Elternhaus natürlich auch mit Kitas, kostenfreien Schulen und Universitäten nicht ausgleichen kann, ist logisch. Man kann nur immer versuchen, die Schere zu verkleinern.
Zu Judes' Zeiten war das noch erschreckend anders.
 

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Der Unterschied zwischen Jude und den Studierenden wird hier auch sehr deutlich [zitat]

„Erst jetzt, da er seinen Sehnsuchtsort tatsächlich erreicht hatte, erkannte Jude, wie weit er wirklich entfernt war von seinem ersehnten Ziel. Nur eine Mauer trennte ihn von seinen glücklichen jungen Zeitgenossen, deren Geistesleben er teilte; Männern, die von früh bis spät nichts anderes zu tun hatten als lesen, Notizen machen, lernen und geistig verdauen. Nur eine Mauer – aber was für eine!“ (S. 122/123)

[/zitat]

Irgendwie verfolgt mich die Mauer gerade...:confused::D.

Der Brief von dem Professor war ja auch böse, oder?

Der letzte Satz von Dir bzgl. theologischer Begeisterung wird am Anfang des 3. Abschnittes noch mal etwas deutlicher hervorgehoben.
Ein sehr schönes Zitat. Das hatte ich mir auch angestrichen. Es bringt Judes Konflikt wunderbar zum Ausdruck. Er strebt nach Bildung, reißt sich den H... auf und steht dennoch vor einer unüberwindlichen gesellschaftlichen Mauer.

Zugang zu universitärer Bildung erhielten damals nur Angehörige höherer Schichten. Dies wurde dadurch sichergestellt, dass man für die Zulassung zum College eine gewisse Vorbildung mitbringen musste, die man nur durch eine gute Schulausbildung erwerben konnte. Hierfür hatte Arbeiterkinder weder Zeit noch Geld und selbst Jude, der sich sehr anstrengt, fehlt zumindest ein Lehrplan, Anleitung und Rat.

Einkaufen konnte man sich natürlich auch. Geld stank noch nie.
 

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Aber hat sich an der Arroganz der Reichen (ich schließe jetzt die "gebildete Klasse" mal aus, denn ich zähle uns dazu und wir sind (nach meiner Beobachtung) hier alles andere als arrogant :D) im Lauf der Jahrhunderte verändert? Nein, im Gegenteil: es wird immer schlimmer...
Ich stimme @Literaturhexle zu, dass es heutzutage mehr Programme und Möglichkeiten gibt, auch zu studieren, wenn man keine reichen Eltern hat. Ich habe selbst davon profitiert. Allerdings habe ich während meiner beruflichen Laufbahn auch den Eindruck gewonnen, dass der Aufstieg „natürlich“ begrenzt ist. Die Elite (Vorstände, reiche Unternehmer) bleibt gern unter sich. Ohne gute Verbindung ist es auch heute kaum möglich, ganz nach oben aufzusteigen.
 

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Ich fand den Anfang dieses Abschnitts übrigens etwas sperrig. Die Gespräche mit den Geistern der alten Philosophen und Gelehrten bei der Wanderung durch das nächtliche Christminster. Das kam mir auch irgendwie bekannt vor - vllt. eine Anspielung auf ein Theaterstück?
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.245
18.663
49
48
Ich fand den Anfang dieses Abschnitts übrigens etwas sperrig. Die Gespräche mit den Geistern der alten Philosophen und Gelehrten bei der Wanderung durch das nächtliche Christminster. Das kam mir auch irgendwie bekannt vor - vllt. eine Anspielung auf ein Theaterstück?
Auf was sich Hardy bezieht, wird ja in den Anmerkungen am Schluss des Romans deutlich. Ich weiß ja nicht, welche Ausgabe du hast - @Literaturhexle und ich lesen die "Büchergilde Klassik"-Ausgabe, die aber mit der Auflage aus dem Hanser-Verlag aus 2018 identisch ist (nur mit anderem Cover).
Ich fand´s interessant und gut zu lesen :)
 
  • Like
Reaktionen: MRO1975

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Ihr müsst euch auch die Erläuterungen am Ende unbedingt mal ansehen - hier werden viele Bezüge und Metaphern erklärt.

Bei Christminster handelt es sich um Oxford und viele Schauplätze im Buch sind reale Orte.

Lustig fand ich auch den Hinweis, dass Studenten nach Einbruch der Dunkelheit Roben tragen mussten. Eine ähnliche Pflicht gibt es ja für Rechtsanwälte. Deren Robenpflicht wurde nicht etwa aus Respekt vor dem Gericht eingeführt, sondern damit man schon von Weitem sieht, was sich da für ein Spitzbub nähert. Heutzutage ist das natürlich anders. ;)
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.196
49
Da das Vorwort bei uns hinten Ist, habe ich es noch nicht gelesen. Hardy hat ja zahlreiche literarische Bezüge seiner Zeit eingebaut. Man kann sie im Glossar entdecken, müsste dann allerdings weiter forschen... Da hätte ich noch keine Lust zu.
Ich fand den Anfang dieses Abschnitts übrigens etwas sperrig. Die Gespräche mit den Geistern der alten Philosophen und Gelehrten bei der Wanderung durch das nächtliche Christminster
Es gibt immer mal wieder ein paar Längen im Buch. Anschließend geht es aber bislang flüssig weiter. Ich bin jetzt auf der Hälfte.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Jude möchte studieren, geht nach Christminster, dies finde ich gut, bin sehr gespannt was passieren wird.

Hier, in Christminster ist er allein, kennt nur zwei Leute, wobei kennen bei einer Person zu viel gesagt ist, möchte diese beiden kontaktieren. Da haben wir einmal den Lehrer Phillotson, ein vom Leben enttäuschter Mann, der seine Zielsetzungen nicht erreicht hat und ihn nicht mehr erkennt. Sehr schade! Und zum zweiten ist da seine Cousine Sue, seine Tante warnt ihn vor ihr. Niedlich wie hier wieder seine Gefühle hochköcheln. Bin sehr gespannt wie das zwischen den Beiden weitergeht.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Der Brief von dem Professor war ja auch böse, oder?

Eine Frechheit nach dem Motto, Schuster bleib bei deinen Leisten! Immer schön abschirmen und unter sich bleiben. :mad:

Ist ja heute noch so in gewissen gesellschaftlichen Kreisen :rolleyes:...

Jaaaa, dieser Brief ist heftig und von oben herab. Dieser Brief und der Ton entsetzt ihn und er beschließt aufzugeben. Diese Einsicht ist für Jude sicher auch nicht einfach. Er tut mir wirklich leid!

Allerdings bin ich auch der Meinung, dass es so ein Denken leider auch heute noch gibt. Und das dieses Denken von reaktionären Kreisen wieder befeuert wird. Was sich in vielem niederschlägt. Leider!