Rezension Rezension (5/5*) zu Der vollkommene Schmerz: Roman von Ugo Riccarelli.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Lebensläufe der Toskana

Ugo Ricarelli, ein inzwischen verstorbener italienischer Schriftsteller, veröffentlichte 2004 den Roman „Der vollkommene Schmerz“, der mir erst jetzt in die lesenden Hände gefallen ist. Es ist ein Roman, der mich berührt und überrascht hat und für den ich gern eine Leseempfehlung aussprechen möchte.
Um was geht es:
In dem kleinen toskanischen Dorf Colle verläuft zum Anfang des 20. Jahrhunderts noch alles in geordneten, traditionellen Bahnen. Doch dann zieht der Fortschritt ein und mit ihm eine bunte Mischung aus Lebenssituationen, die Ricarelli dem Leser anhand seiner Figuren aus zwei unterschiedlichen Familien des Dorfes schildert.
Aus der Stadt zieht ein Lehrer, genannt Maestro, ins Dorf. Er bringt sozialpolitische Thesen mit und zieht nicht nur bei der Witwe Bartoli ein, sondern beginnt auch ein Beziehung und eine Familie mit ihr aufzubauen, ohne eine Ehe einzugehen. Der Pfarrer und die Gemeinde sind zunächst entsetzt, werden aber angesichts der Liebe und Frieden ausstrahlenden, wenn auch armen Hausgemeinschaft beruhigt und entspannt.
Die Familie Bertorelli, deren Familienmitglieder in den aufeinanderfolgenden Generationen immer wiederkehrende Vornamen der Odyssee tragen, steht auf der anderen gesellschaftlichen Seite des Dorfes. Sie sind Schweinehändler und bringen später mit einer kleinen Automanufaktur den technischen Fortschritt und auch wirtschaftlichen Erfolg als Unternehmer ins Dorf.
Diese beiden Familien und eine Vielzahl von Familienmitgliedern werden über 3 bis 4 Generationen in Ricarellis Roman miteinander verwoben und vermischt. Der Leser erliest sich dabei die Wirrungen der italienischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er erfährt von den Kämpfen zwischen Schwarzhemden (Mussolinis Anhänger) und den sozialistischen Rebellen, erfährt die Auswirkungen des Krieges an der Seite der Deutschen, der Niederlage und dem Wüten der abziehenden Deutschen.
Dabei war ich als Leserin mehr als dankbar für die Orientierungshilfe, die mir anhand eines abgedruckten Stammbaumes der handelnden Personen vom Verlag mitgeliefert wurde, denn was dort an Fülle von Geschichten und Figuren durch das Dorf und das Buch zieht, ist eine wirkliche Herausforderung an die Aufmerksamkeit des Lesers.
Der Klappentext der Taschenbuchausgabe gibt ein Zitat von Volker Breidecker (Süddeutsche Zeitung) wieder, der das Buch in einen Zusammenhang mit Gabriel Garcia Marquez „Hundert Jahre Einsamkeit“ stellt. Und für mich persönlich passt das tatsächlich sehr genau, denn das war das Buch, bei dem ich zum ersten Mal in meinem Leben auch mit einem Stammbaum parallel zur Lektüre versucht habe, irgendwie den Überblick zu behalten. Und genauso wie bei Marquez hat das manchmal besser, manchmal schlechter geklappt. Ganz ehrlich: Ich wusste im Buch nicht immer, wer gerade wo ist und was macht und wer doch schon gestorben war.
Fazit:
Ich war manchmal überfordert von der Fülle und Buntheit der Personen und Geschehnisse und habe irgendwann das Fazit gezogen: Weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen. Bitte doch ein wenig mehr Innehalten und Ruhe beim Erzählen. Ich dachte, so blieben mir die Personen im Roman zu fern und ich könnte keine eigentlich hier angebrachte Bindung zu ihnen aufnehmen, und den immer wieder angesprochenen „vollkommenen Schmerz“ eben nicht mitfühlen.
Doch dann konnte ich mich beobachten, wie mir kurz vor Schluss Tränen übers Gesicht liefen bei der Lektüre über das Schicksal Maddalenas – der Kernfigur des Romans.
Also muss ich mich wohl selbst korrigieren und kann dem Roman und dem Schriftsteller nur meinen allergrößten Respekt und meine Anerkennung aussprechen: Wenn Ricarelli es schafft, in diesem bunten, vielfältigen Roman das Herz des Lesers so zu treffen, dann steckt da wohl ohne Frage ganz, ganz große Schreibkunst dahinter und kann nur mit 5 Sternen bewertet werden.
Eine bunte Reise in ein vergangenes Italien!