Rezension Rezension (3/5*) zu Der Stotterer von Charles Lewinsky.

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.187
49
Buchinformationen und Rezensionen zu Der Stotterer von Charles Lewinsky
Kaufen >
Ein virtuoses Spiel mit der Wahrheit

Hosea Stärckle, der Stotterer, sitzt in der JVA ein. Er schreibt beständig Briefe an den Anstaltspfarrer, die er mit „Für den Padre“ betitelt. Offensichtlich haben die beiden ein Abkommen geschlossen: Hosea liefert nicht-chronologische Episoden aus seinem Leben, im Gegenzug bekommt er eine Stelle als Anstaltsbibliothekar, so dass er die anstrengende Tätigkeit in der Wäscherei hinter sich lassen kann und mehr freie Zeit hat.

In den Briefen ist nichts gewiss. Der Erzähler streut immer wieder Zweifel, ob das soeben Berichtete überhaupt der Wahrheit entspricht oder erfunden wurde. Er macht sich regelrecht einen Spaß aus seiner Unzuverlässigkeit: „Nein, Padre! Ich bin nicht, was ich schreibe, und ich schreibe nicht, was ich bin. Ich erfinde.“ (S. 143)

Will man dem Erzähler glauben, hat er eine sehr schwere Kindheit gehabt. Die Familie war einem Sektenguru verfallen, die Kinder wurden mit äußerster Strenge erzogen. Ein traumatisches Erlebnis hat offensichtlich auch zum Sprachfehler des Kindes geführt. Weil er nicht flüssig sprechen kann, hat sich Hosea früh zum Spezialisten für das geschriebene Wort entwickelt. Er ist sehr belesen und verfügt über fundierte Bibelkenntnisse. Auch ist er überzeugt von seinem Talent als Schreiber, man empfindet ihn jedoch schnell als Hochstapler und Angeber. Er erzählt stets leichtfüßig, niemals stellt er sich als tragische Figur dar.

Sein Talent hat er im Laufe seines Lebens in verschiedenen Branchen angewendet, stets mit dem Ziel, andere hinters Licht zu führen und sich als ein anderer Mensch auszugeben. Immer wieder geht es um das Fälschen von Schriften: Zunächst war es ein erdachter Bibelvers, dann Liebesbriefe, schließlich erfundene Mails von erfundenen Frauen einer Dating-Agentur. Ein geschickt ausgeführter Enkeltrick hat ihn letztlich in die Mühlen der Justiz und hinter Gitter gebracht. Mit seinen Opfern hat Stärckle keine Empathie, sie sind schließlich selbst schuld, auf ihn hereingefallen zu sein.

Im Verlauf des Buches werden die brieflichen Monologe durch Tagebucheinträge, die sich auf das Leben im Gefängnis beziehen, und einzelne Kurzgeschichten ergänzt. Man bekommt also bis zum Ende keine Resonanz oder Antworten von anderen Personen und ist nur auf die Aussagen des Erzählers angewiesen.

Ich bin kein Freund von Brief- oder Schelmenromanen. Das muss ich einfach vorausschicken, weil ich deshalb vielleicht dieses Buch gar nicht hätte lesen sollen. Ich bin nicht warm geworden mit dem Protagonisten. Ich konnte nicht über seine Streiche lachen, sein überheblicher Stil hat mich über weite Strecken genervt.

Trotzdem muss ich einräumen, dass ich Charles Lewinsky für einen Sprachvirtuosen halte. Er bringt intelligente Wortspiele und unterhaltsame Kalauer. Er ist ein Formulierungskünstler auf ganz hohem Niveau, der auch tiefgehende Gedanken in und zwischen den Zeilen verstecken kann. Das habe ich alles wahrgenommen, jedoch überwogen beim Lesen die o.g. negativen Gefühle.

Auch die eingestreuten Kurzgeschichten („Fingerübungen“), mit denen Stärckle dem Padre wohl sein Talent als Schreiberling beweisen will, konnte ich nicht in einen Gesamtzusammenhang bringen, obwohl die ein oder andere Geschichte mein Interesse weckte. Am ehrlichsten scheinen mir die Tagebuchaufzeichnungen zu sein, in denen der Leser Spannendes aus dem Gefängnisalltag erfährt.

Ich bin überzeugt, dass andere Leser, die gerne Humoriges lesen oder eine Schwäche für Schelmenromane und unzuverlässige Erzähler haben, ihre Freude an diesem gekonnt geschriebenen Roman haben werden. Für mich war er leider nicht das Richtige, obwohl mich insbesondere der letzte Teil des Romans noch ein bisschen mit dem Stil ausgesöhnt hat.

Insofern gebe ich nur eine eingeschränkte Leseempfehlung.


 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.245
18.662
49
48
Klingt trotz deiner eingeschränkten Leseempfehlung interessant :) . Schöne aussagekräftige Rezension!!!