Rezension Rezension (5/5*) zu Alter Rabe Alkohol: Einsichten aus einem Entzug von Heyne Winterfeldt.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Alter Rabe Alkohol: Einsichten aus einem Entzug von Heyne Winterfeldt
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Einblicke, die nachdenklich stimmen...


Ich weiß nicht, wie es anderen geht. Aber mich persönlich macht der Umgang mit einem Alkoholiker hilflos. Den ersten Obdachlosen, der mitten auf dem Bürgersteig eingeschlafen war, erlebte ich fassungslos als Kind - und die Reaktionen der Erwachsenen um mich herum machten mich nicht weniger fassungslos. Später sind mir noch einige Alkoholiker im Bekanntenkreis begegnet, vielleicht auch im Verwandtenkreis - und unter Kollegen.

Eine Kollegin war denn auch der Grund, weshalb ich mich für dieses Buch interessierte. Stets die Hilflosigkeit im Gepäck, wusste niemand so recht mit der Alkoholkrankheit der Kollegin umzugehen, die sie zu verheimlichen suchte, die aber offensichtlich war - und uns auf eine gewisse Art und Weise auch zu Co-Abhängigen machte. Für niemanden eine schöne Situation, und die Gefühle dazu waren sehr widersprüchlicher Natur: Mitleid, Unverständnis, das Gefühl, beschützen zu müssen, Wut, Hilflosigkeit, Ohnmacht. Eine Situation, die das Arbeitsklima lange belastet hat - bis die Kollegin in Rente ging.


"Wir sind hier, weil es letztich kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Solange er nicht zuläßt, daß seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich noch andere erkennen - er wird allein sein." [Richard Beauvais, 1964] (S. 31)


Von diesem Buch erhoffte ich mir zumindest einen Einblick in die Erfahrungswelt eines Alkoholikers, und den bekam ich auch - und gleichzeitig noch viel mehr.

Dieses Buch ist mehr als ein Erfahrungsbe richt - aber dies ist es eben auch. Der Autor ist / war ein sogenannter Epsilon-Alkoholiker, im Volksmund auch bekannt als 'Quartalssäufer'. Er schildert seinen letzten Entzug in einer Suchtklinik, bietet aber auch Einblicke in das Leben als Alkoholiker. 'Einsichten aus einem Entzug' lautet denn auch der Untertitel - und doch fasst es das auch nicht komplett.

Es ist kein Ratgeber für Betroffene oder Angehörige, es ist auch kein Sachbuch, das über Symptome aufklärt oder über die verschiedenen Arten von Alkoholismus. In diesem Buch gewährt ein Alkoholiker einen Einblick in sein Leben - aber ohne Tränendrüse, Selbstmitleid oder halbherzige Erklärungen. Und er präsentiert dies auf eine unerwartet poetische Art, mit dazwischengeschobenen Versen, philosophischen Anklängen - und gnadenlos ehrlich.

Dabei erzählt Heyne Winterfeldt keineswegs nur aus seiner eigenen Perspektive. Er fühlt sich erstaunlich sensibel in die verschiedensten Rollen ein - in die anderer Betroffener, in die der Nachtschwester, der Oberschwester, des leitenden Arztes, des Kneipenbesitzers, der Putzfrau - und konfrontiert den Leser so nicht nur mit den Dunkelkammern des Lebens, sondern ebenso mit der Hilflosigkeit der Gesellschaft (können Entzugskliniken wirklich mehr erreichen, als einen Ertrinkenden kurzzeitig aufs Trockene zu holen?) und womöglich auch mit seinen eigenen Gedanken.


"Jedes Tier läuft in seiner Furcht fort und verbirgt sich, wenn es Angst hat und verletzt wurde. Der Mensch harrt aus. Bis alle Kräfte verschlissen sind und die entzündete Seele geflutet wird. Dann endlich treibt einen das Gift sicher fort, aber es spült einen ins Abseits. Mit dem Fluch, daß noch nie gefunden wurde, was man anzusteuern meinte." (S. 231)


Mich konnte diese Mischung beeindrucken, wobei die Ohnmacht des Süchtigen, seine Verzweiflung am Leben, die Sackgasse, die er sehenden Auges einschlägt, erlebbar wird - aber gleichzeitig auch Poesie, (Selbst-)Ironie, ein Augenzwinkern und Humor ihren Raum finden. Die verschiedenen Blickwinkel auf die Erkrankung machten mich immer wieder nachdenklich, und auch wenn ich nie viele Seiten am Stück lesen konnte, weil die Melancholie doch oft greifbar war, bin ich dankbar für diesen Einblick.


© Parden

 
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