Rezension Rezension (4/5*) zu Der Lärm der Zeit: Roman von Julian Barnes.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Lärm der Zeit: Roman von Julian Barnes
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Verfolgung – Verängstigung - Vereinnahmung

In seinem 2017 erschienenen Roman „Der Lärm der Zeit“ schildert Julian Barnes die Geschichte des Komponisten Dmitrij Schostakowitsch in drei Stationen, die alle bezeugen, wie sein Leben und seine Kunst vom Leben in der Diktatur der Sowjetunion mit und nach Stalin überschattet und geprägt wird.
Im ersten Teil erwartet Schostakowitsch fast zwangsläufig seine Verhaftung und die daraus erwachsenden Folgen, nachdem er Stalins öffentliches Missfallen an der schon international gefeierten Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ geerntet hat. Das reicht vollkommen aus, dass er fest mit seinem Ende rechnet, auch wenn er bis dahin ein erfolgreicher und angesehener Komponist ist, dessen „Lied vom Gegenplan“ zum Beispiel die ganze Nation mitsingen kann. Und so erwartet er seine Verhaftung jede Nacht und lauscht auf jede Bewegung im Treppenhaus und Lift.
Teil 2: Aber nichts passiert. Die Verhaftung bleibt aus. Vielmehr verschwinden um ihn herum die Menschen in der Verbannung oder in staatlichen Lagern, von denen er seine Verhaftung eigentlich erwartet hatte. Und er erhält dogmatische Unterweisungen durch Privatstunden des Genossen Troschin, der ihm die Sowjetideologie nahe zu bringen versucht. Was bleibt ist die Angst und das Gefühl der ständig präsenten Bedrohung. Beides schlägt sich auf sein künstlerisches Schaffen deutlich nieder. Eine Oper jedenfalls gelingt ihm nie wieder.
Teil 1 also schildert die konkrete Verfolgung, Teil 2 die Verängstigung und Teil 3 setzt sich fort mit der Vereinnahmung. In den vermeintlich einfacheren und sicheren Jahren nach Stalins Tod und unter Chruschtschow beginnt für Schostakowitsch eine neue Hölle. Die Mächtigen des Landes lassen nicht ab von ihm, aber nun droht ihm kein Lager, sondern etwas nicht minder schlimmes, nämlich der Verlust der eigenen Selbstachtung. Der Staat nutzt die Popularität des Künstlers auf internationalem Parkett, schickt ihn ins Ausland und diktiert dort sehr deutlich und wirksam das Geschehen und Gesagte. Das führt so weit, dass er sein Idol Strawinskij zu verleugnen hat. Und so weit, dass Schostakowitsch auch schließlich in die Partei eintritt. Und sich so fast sehnt nach der konkreten Bedrohung durch die Macht in seinem früheren Leben. Wie auch immer: Der Roman zeigt eines mehr als deutlich: Kunst braucht Freiheit und kann sich mit dogmatischen Ansprüchen eines diktatorischen Regimes nicht arrangieren. Und Freiheit ist eben immer die Freiheit der Andersdenkenden. Kunst als Instrument der Macht geht unter im Lärm der Zeit und kann kein Flüstern der Geschichte erzeugen.
„Was konnte man dem Lärm der Zeit entgegensetzen? Nur die Musik, die wir in uns tragen – die Musik unseres Seins -, die von einigen in wirkliche Musik verwandelt wird. Und die sich, wenn sie stark und wahr und rein ist, um den Lärm der Zeit zu übertönen, im Laufe der Jahrzehnte in das Flüstern der Geschichte verwandelt.“
Daran hält Schostakowitch fest.

Fazit: Barnes hat hier einen sehr programmatischen Roman geschrieben. Seine Figurengestaltung ist dabei wenig psychologisch tiefgehend. Es geht ihm mehr um Situationen und Botschaften denn um eine Studie über Schostakowitsch selber.
Ich hätte mir ein wenig mehr psychologische Färbung in dem Roman durchaus gewünscht, habe aber die andere, starke Seite von ihm mit viel Interesse und Schrecken gelesen.
Eine Leseempfehlung mit 4 Sternen ist mein Fazit.


 
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