Rezension Rezension (4/5*) zu Das Feld von Robert Seethaler.

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.068
11.155
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Buchinformationen und Rezensionen zu Das Feld von Robert Seethaler
Kaufen >
Ein Kaleidoskop aus Geschichten

In Seethalers Roman "geht es um das, was sich nicht fassen lässt. Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem Bild menschlicher Koexistenz." (Über das Buch)

Die Frage, die sich mir beim Lesen gestellt hat, ist, ob die einzelnen Geschichten sich tatsächlich wie ein Puzzle zusammensetzen, so dass am Ende ein großes Ganzes entsteht.

Im ersten Kapitel schildert ein alter Mann, wie er jeden Tag den Friedhof besucht.

"Es war der älteste Teil des Paulstädter Friedhofes, der von vielen nur das Feld genannt wurde. (...) Kaum jemand kam noch hierher."

Der Mann denkt über die Toten nach, die meisten hat er persönlich gekannt, viele zumindest vom Sehen. Einfache Paulstädter Bürger.

"Er versuchte, sich ihre Gesichter zu vergegenwärtigen, und setzte seine Erinnerungen zu Bildern zusammen. Er wusste, dass diese Bilder nicht der Wirklichkeit entsprachen, dass sie vielleicht gar keine Ähnlichkeit mit den Menschen hatten, die sie zu Lebzeiten gewesen waren."

Während er auf seiner alten Bank sitzt, glaubt er die Stimmen der Toten zu hören, einzelne Sätze, Fragmente eines Lebens und "er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden. Natürlich würden sie vom Leben sprechen. Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte."

Andererseits glaubt er, sie würden ihre Erinnerungen verklären, von Belanglosigkeiten erzählen, so wie sie es auch zu Lebzeiten getan haben.

Und genau das tun die Toten auf dem Feld in den folgenden Geschichten: von ihrem Leben erzählen. Einige fassen ihre Lebensgeschichte zusammen, andere nur Ausschnitte oder die kurze Zeit unmittelbar vor ihrem Tod. Erinnerungen, Fragmente eines Lebens, Rechtfertigungen, Wahrheiten, die man im Leben nicht äußern wollte.

Manche Geschichten hängen unmittelbar zusammen, wenn zum Beispiel Paare direkt hintereinander zu Wort kommen, und wir als Leser*innen können die Wahrheit in den konträren Erzählungen suchen.
Manche sind nur lose verknüpft, immer wieder tauchen bestimmte Figuren auf, wie der Pfarrer oder der Bürgermeister und der Stadtgärtner. Man müsste im Prinzip alle Namen notieren, um ein vollständiges Beziehungsgeflecht herstellen zu können.

Am Ende hören wir die Stimme des alten Mannes, der nun selbst einer der Toten ist - eine Rahmenhandlung. Ich habe nach dem letzten Kapitel, dann wieder das erste gelesen und so hat sich für mich zumindest die Idee des Romans, dass jeder noch einmal eine Stimme erhält und erzählen darf und sich dadurch die Vielfalt des Paulstädter Lebens - exemplarisch für eine Kleinstadt - ergibt.

Wer jedoch das große Ganze sucht, der wird enttäuscht. Die Geschichten bieten ein Kaleidoskop der Paulstädter Bürger*innen, Ausschnitte aus verschiedenen Lebensläufen, die sich berührt oder verknüpft haben oder auch auseinander gerissen sind.

Überzeugt hat mich - wie in "Der Trafikant" oder "Ein ganzes Leben" - die Sprache Seethalers, die sich den jeweiligen Figuren anpasst und die den Roman zusammenhält ;)

Trotz der Kritik daran, lesenswert.

 
  • Hilfreiche Rezension
Reaktionen: Literaturhexle

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.058
49
Wer jedoch das große Ganze sucht, der wird enttäuscht. Die Geschichten bieten ein Kaleidoskop der Paulstädter Bürger*innen, Ausschnitte aus verschiedenen Lebensläufen, die sich berührt oder verknüpft haben oder auch auseinander gerissen sind.
Danke, liebe Querleserin, für deinen Bericht, in dem du das Buch gewohnt wunderbar zusammenfasst!
Mir war sehr an deiner Expertise gelegen, weil ich an mir zweifelte, das große Ganze eben NICHT erkannt zu haben. Diese Sorge hast du mir jetzt genommen.
Ich würde mich deiner Kritik zu 100% anschließen: die Sprache, Anfang und Ende wunderbar erzählt. Dazwischen lose Berichte einzelner Paulstädter, die nur teilweise miteinander verknüpft sind.
Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
 
  • Like
Reaktionen: Querleserin

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.068
11.155
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Danke, liebe Querleserin, für deinen Bericht, in dem du das Buch gewohnt wunderbar zusammenfasst!
Mir war sehr an deiner Expertise gelegen, weil ich an mir zweifelte, das große Ganze eben NICHT erkannt zu haben. Diese Sorge hast du mir jetzt genommen.
Ich würde mich deiner Kritik zu 100% anschließen: die Sprache, Anfang und Ende wunderbar erzählt. Dazwischen lose Berichte einzelner Paulstädter, die nur teilweise miteinander verknüpft sind.
Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Freut mich, dass ich dir helfen konnte ;)
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Beliebteste Beiträge in diesem Forum