1. Leseabschnitt (bis S. 92)

kingofmusic

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Diese etwas "wohlgesinnte" Aussage revidiert nicht meine grundsätzliche Meinung über Dr. Sloper - nicht, dass hier Missverständnisse aufkommen :D.
Aber ich habe mich gerade gefragt, wie ich an seiner Stelle in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts gehandelt hätte, als Ansehen in der Gesellschaft mehr zählte als alles andere. Und was würden sich die Menschen das Maul zerreißen, wenn seine Tochter einen "unwürdigen" Mann heiraten würde.
Dr. Sloper ist ein schwieriger Charakter, der schlecht "zu packen" ist.
 
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Helmut Pöll

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Aber ich habe mich gerade gefragt, wie ich an seiner Stelle in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts gehandelt hätte, als Ansehen in der Gesellschaft mehr zählte als alles andere. Und was würden sich die Menschen das Maul zerreißen, wenn seine Tochter einen "unwürdigen" Mann heiraten würde.
Schwierige Frage. Mir wird er durch den Scharfblick auch nicht sonderlich sympathisch ;). Ich glaube man muss, wie Du schon gesagt hast, die Verhältnisse der damaligen Zeit mit berücksichtigen. Heute hätte seine Tochter ebenfalls eine gute Ausbildung und könnte sich auch alleine durchbringen. Damals aber wäre sie im Armenhaus gelandet, wenn ihr Mann das Geld durchgebracht hätte. Ich glaube es geht Sloper gar nicht alleine darum, dass sein potentieller Schwiedersohn nicht wohlhabend ist, sondern dass er selbstsüchtig ist und tatsächlich das mitgebrachte Geld durchbringen würde. Einen armen Bräutigam, der sorgsam mit Geld umgeht und versucht auf eigenen Beinen zu stehen, hätte er vermutlich akzeptiert.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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So, ihr Lieben, nun habe ich den Abschnitt auch komplett gelesen.

Der Erzähler erinnert mich teilweise an das unselige Buch der allertraurigsten Geschichte. @MRO1975 @Leseglück , musstet ihr auch daran denken, als der Erzähler uns als Leser direkt ansprach?

Der Vater wird uns am Anfang und immer wieder schlecht gemacht, wenn der Erzähler uns an dessen persönlichen Gedanken teilhaben lässt. Er qualifiziert die Fähigkeiten seiner Tochter ab, findet sie unattraktiv und nahezu dumm. Das tut ein normaler Vater heutzutage nicht.

In der damaligen Zeit waren es aber die Schönheit, die Stimme, die Liebenswürdigkeit, was eine Frau auszeichnete und auf dem Heiratsmarkt die Aktien steigen ließ. Insofern tat ein Vater vielleicht auch gut daran, auch das eigene Kind "realistisch" einzuschätzen.

Leider kommen diese Gedanken auch sehr lieblos daher. Man gewinnt den Eindruck, dass Dr Sloper in der Tat keine große Liebe und Zuneigung für seine Tochter empfindet.

Für mich ändert sich dieser Eindruck im letzten Kapitel, als Sloper mit Townsent spricht. Hier übernimmt der Vater eindeutig die Rolle des Beschützers. Er hat seiner Tochter ja Freiheiten zugebilligt, die über das normale Maß der Zeit hinausgehen. Er hält Townsent aber für einen Mitgiftjäger, einen Eindruck, den der junge Mann nicht wirklich zerstreuen kann. Zu schnell treibt er das Verlöbnis voran, zu wenig hat er vorzuweisen.

Wenn Sloper sagt:
[zitat]Lebenslange Hingabe lässt sich nur im Nachhinein beurteilen[/zitat]
hat er schließlich recht.
Der junge Mann bindet im Vorfeld zum Gespräch mit dem Vater die naive Catherine auch an das Versprechen, ihm zu folgen, selbst wenn der Vater ihn ablehnen würde. Das deutet nicht auf ehrliche Absichten hin. Ich kann den Doktor in seiner Sorge sehr wohl verstehen.

Es gefällt mir, dass Sloper die Intelligenz des jungen Mannes durchaus anerkennt. Seine Schwester finde ich indessen fragwürdig: nur um ein spannendes Liebesdrama zu erleben, "verhökert" sie die Nichte und lässt sich vom Bewerber einwickeln.

Ich halte den Erzähler für unzuverlässig. Man darf ihm nicht alles glauben. Er hat uns zu schnell gegen Dr. SLOPER eingenommen. Vielleicht ist der Doktor gar nicht so kalt?

Um das zu erfahren muss ich wohl weiter lesen ;)
 
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Leseglück

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7. Juni 2017
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@MRO1975 @Leseglück , musstet ihr auch daran denken, als der Erzähler uns als Leser direkt ansprach?
Ja schon aber hier habe ich nicht den Eindruck, dass es sich um einen unzuverlässigen Erzähler handelt. Der Erzähler ist gegen Dr. Sloper - und das zurecht.
Dr. Sloper lehnt Townsent zurecht ab (denn dieser scheint ja wirklich ein Heiratsschwindler zu sein) aber aus den falschen Gründen. Er macht es nicht aus Liebe und Fürsorge für seine Tochter.
Die Tante wiederum unterstützt die Verbindung zu Townent aber auch aus falschen Motiven...nicht um der Nichte zum Glück zu verhelfen, sondern um ihrer romantischen Ader Nahrung zu geben und sich wichtig zu fühlen...
Mir tut Catherine leid. Wer liebt und schätzt sie eigentlich wirklich?
 

MRO1975

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Der Erzähler erinnert mich teilweise an das unselige Buch der allertraurigsten Geschichte. @MRO1975 @Leseglück , musstet ihr auch daran denken, als der Erzähler uns als Leser direkt ansprach?
An den unzuverlässigen Erzähler habe ich tatsächlich auch mal gedacht. Letzten Endes ließt sich dieses Buch aber deutlich flüssiger und ob der Erzähler uns in die Irre führt, verrate ich hier nicht. ;)
 

Literaturhexle

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Der Erzähler ist gegen Dr. Sloper - und das zurecht.
Interessant. Bis jetzt bin ich mir da nicht sicher. Am Anfang hat er ihn ja auch sehr gelobt in Bezug auf seine Fähigkeiten als Arzt... Ich bin halt wirklich noch am Anfang.
Bei der Tante Stimme ich dir völlig zu.
Mir tut Catherine leid. Wer liebt und schätzt sie eigentlich wirklich?
Absolut!
Townsent traue ich auch nicht über den Weg
 
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kingofmusic

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30. Oktober 2018
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So, ihr Lieben, nun habe ich den Abschnitt auch komplett gelesen.

Der Erzähler erinnert mich teilweise an das unselige Buch der allertraurigsten Geschichte. @MRO1975 @Leseglück , musstet ihr auch daran denken, als der Erzähler uns als Leser direkt ansprach?

Der Vater wird uns am Anfang und immer wieder schlecht gemacht, wenn der Erzähler uns an dessen persönlichen Gedanken teilhaben lässt. Er qualifiziert die Fähigkeiten seiner Tochter ab, findet sie unattraktiv und nahezu dumm. Das tut ein normaler Vater heutzutage nicht.

In der damaligen Zeit waren es aber die Schönheit, die Stimme, die Liebenswürdigkeit, was eine Frau auszeichnete und auf dem Heiratsmarkt die Aktien steigen ließ. Insofern tat ein Vater vielleicht auch gut daran, auch das eigene Kind "realistisch" einzuschätzen.

Leider kommen diese Gedanken auch sehr lieblos daher. Man gewinnt den Eindruck, dass Dr Sloper in der Tat keine große Liebe und Zuneigung für seine Tochter empfindet.

Für mich ändert sich dieser Eindruck im letzten Kapitel, als Sloper mit Townsent spricht. Hier übernimmt der Vater eindeutig die Rolle des Beschützers. Er hat seiner Tochter ja Freiheiten zugebilligt, die über das normale Maß der Zeit hinausgehen. Er hält Townsent aber für einen Mitgiftjäger, einen Eindruck, den der junge Mann nicht wirklich zerstreuen kann. Zu schnell treibt er das Verlöbnis voran, zu wenig hat er vorzuweisen.

Wenn Sloper sagt:
[zitat]Lebenslange Hingabe lässt sich nur im Nachhinein beurteilen[/zitat]
hat er schließlich recht.
Der junge Mann bindet im Vorfeld zum Gespräch mit dem Vater die naive Catherine auch an das Versprechen, ihm zu folgen, selbst wenn der Vater ihn ablehnen würde. Das deutet nicht auf ehrliche Absichten hin. Ich kann den Doktor in seiner Sorge sehr wohl verstehen.

Es gefällt mir, dass Sloper die Intelligenz des jungen Mannes durchaus anerkennt. Seine Schwester finde ich indessen fragwürdig: nur um ein spannendes Liebesdrama zu erleben, "verhökert" sie die Nichte und lässt sich vom Bewerber einwickeln.

Ich halte den Erzähler für unzuverlässig. Man darf ihm nicht alles glauben. Er hat uns zu schnell gegen Dr. SLOPER eingenommen. Vielleicht ist der Doktor gar nicht so kalt?
Du meinst also, James führt den Leser bewusst in die Irre?
Um das zu erfahren muss ich wohl weiter lesen ;)
Du meinst, Henry James will den Leser bewusst in die Irre führen? :)
 

Literaturhexle

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Du meinst, Henry James will den Leser bewusst in die Irre führen? :)
Wir hatten ja die allertraurigste Geschichte gelesen. Da war es genau so: im einen Kapitel sagte er das, im nächsten widersprach er sich wieder...
Daran habe ich denken müssen, weil man von Sloper auch ein ambivalentes Bild gezeichnet bekommt.
 

Renie

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So, ich bin jetzt auch am Start. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten mit der Sprache, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich kurz vorher einen geschmeidig zu lesenden Krimi von J. K. Rowling beendet habe. Der Kontrast zwischen beiden Sprachstilen ist schon krass.:)

auch wenn Henry James eine etwas "steifere" Ausdrucksweise als (im direkten Vergleich) Charles Dickens hat.
Die Ausdrucksweise ist schon sehr speziell. Ich habe gerade die Serie "Downton Abby" für mich entdeckt. Und ich kann nicht anders, aber ich muss immer daran denken. Die Ausdrucksweise ist ähnlich distinguiert. Nichtsdestotrotz blitzt HJs Humor durch. Herrlich. Und seine Ironie ist große Klasse. Die habe ich bis jetzt in allen 3 Büchern, die ich von ihm gelesen habe genossen.
 

Renie

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Will er sie vor dem Unglück bewahren, einen Ehemann zu haben, der sie nicht wirklich liebt. Bestimmt nicht, denn dafür liebt er wiederum seine Tochter nicht genug.
Ich glaube auch, dass hier der Versorgungsgedanke im Vordergrund steht. Töchter wurden damals unter die Haube gebracht, damit sie auch in Zukunft versorgt waren. Auf eigenen Füßen zu stehen war schwierig, so ganz ohne Beruf. Eine Frau in diesen Kreisen hatte nur zwei Möglichkeiten: Ehefrau oder alte Jungfer. (Na ja, vielleicht noch Nonne.)Und wenn frau finanziell gut gepolstert war, bestand natürlich die Gefahr, dass sie nur wegen ihres Geldes geheiratet wurde. Was zwar einerseits verwerflich war, sich aber andererseits nicht vermeiden ließ. Aber so lange der Ehemann einen untadeligen Ruf vorzuweisen hatte, hat man beide Augen zugedrückt.
Der Ehemann war übrigens fein raus, wenn seine Gattin Geld mit in die Ehe brachte. Denn ratet mal, wer darüber die Verfügungsgewalt hatte ;)
 

Renie

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Leider kommen diese Gedanken auch sehr lieblos daher. Man gewinnt den Eindruck, dass Dr Sloper in der Tat keine große Liebe und Zuneigung für seine Tochter empfindet.
Ich habe immer wieder das Gefühl, dass Sloper seine Tochter als interessantes Forschungsobjekt betrachtet. Er hat ihr von klein auf viele Freiheiten gewährt und betrachtet jetzt mit Interesse, was aus ihr geworden ist. Dann scheint er immer sehr berechnend im Umgang mit ihr, so als ob er ihre Verhaltensweise vorhersagt und hinterher analysiert, ob er dabei Recht hatte.
 

Helmut Pöll

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Er hat ihr von klein auf viele Freiheiten gewährt und betrachtet jetzt mit Interesse, was aus ihr geworden ist.
Aber nur die Freiheiten des goldenen Käfigs. Er hat sehr genaue Vorstellungen für sie, wie ihr Leben auszusehen hat, damit es auch seinem Ansehen und Ruf nicht schadet. Jetzt ist er ebenso erstaunt wie wütend, dass sie eine Entscheidung trifft, die im Gegensatz zu seinen Wünschen steht.
Unabhängig davon würde Catherine bei einer Ehe mit Morris wohl ein böses Erwachen erleben.
 

Literaturhexle

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Aber nur die Freiheiten des goldenen Käfigs.
Das stimmt wohl. Sie war in Bezug auf ihr von der Mutter geerbtes Vermögen schon finanziell unabhängig (solange sie nicht heiratete und damit die Herrschaft über das Vermögen damit aufgab). Sie hätte sich grundsätzlich auch ihren Mann selbst aussuchen dürfen.
Aber ansonsten war sie doch aufs Sticken, Rumsitzen und Singen reduziert. Doch dieses Schicksal teilten wohl alle Frauen aus besserem Hause. Die einfachen Frauen hatten es noch schlechter: sie mussten schwer arbeiten und sich von der Herrschaft/den Männern in der Familie drangsalieren lassen.
Wie gut, dass sich die Zeiten geändert haben!