Rezension Rezension (5/5*) zu Das Buch der vergessenen Artisten: Roman von Vera Buck.

MRO1975

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11. August 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das Buch der vergessenen Artisten von Vera Buck
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Hereinspatziert und nicht vergessen!

Es gibt viele gute Bücher gegen das Vergessen der Greultaten im 3. Reich. Umso erstaunlicher ist es, dass Vera Buck eine Nische entdeckt und besetzt hat, über die noch nichts geschrieben wurde: Das Schicksal der Artisten und Künstler, die der Gleichschaltung durch die Nazis so rigoros zum Opfer gefallen sind, dass sie als vergessene Generation angesehen werden.

Erzählt wird die Geschichte von Mathis Bohnsack, seines Zeichens Schausteller, und seiner Partnerin Meta, einer Kraftfrau. Die beiden sind ein ungewöhnliches Paar. Er schmal und schmächtig, eher introvertiert und intelligent; sie kraftvoll und muskulös und von eher praktischer Natur. 1935 leben sie in einer Wohnwagensiedlung am Rande Berlins - gemeinsam mit Metas geistig zurückgebliebenen Bruder Ernsti. Die Bewohner der Kolonie - allesamt Artisten und Schausteller - haben Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Insbesondere die öffentliche Zurschaustellung körperlicher Abnormitäten passt nicht ins Kulturbild der Nazies und es gibt daher kaum noch Engagements. Auch die Wohnwagensiedlung selbst missfällt der Obrigkeit und einzelne Einwohner der Wohnwagensiedlung wurden bereits verhaftet oder weggeschleppt und sind nie wieder aufgetaucht. Mathis fasst deshalb den Entschluss, ein Buch zu schreiben, damit die Artisten seiner Generation nicht vergessen werden. Obwohl Meta diese Vorhaben missfällt, trifft Mathis sich mit den unterschiedlichste Künstlerpersönlichkeiten und schreibt ihre Geschichten auf. Das dabei entstehende Buch darf auf keinen Fall in die Hände der Nazis fallen. Dann wird die kleine Kolonie über Nacht von der Polizei geräumt und die meisten Bewohner weggeschleppt - auch Metas Bruder Ernsti. Mathis und Meta müssen untertauchen und begeben sich auf die gefährliche Suche nach ihm.

Parallel erfährt der Leser, wie Mathis Schausteller wurde und Meta kennengelernt hat. Abwechselnd zum Handlungsstrang in den Jahren 1935 ff. erfährt der Leser, dass Mathis als 13. Sohn eines Bohnenbauers in einem kleinen Dorf, das bezeichnenderweise Langweiler heißt, aufgewachsen ist. Aufgrund einer Erkrankung an der Kinderlähmung hat er ein lahmes Bein und ist außerdem gegen Bohnen allergisch. Daher hat er einen schweren Stand bei seinem Vater und wird häufig von seinen Brüdern verprügelt. Als Mathis 15 ist, kommt ein Zirkus in das Dorf und Mathis „verliebt“ sich in den Durchleuchtungsapparat. Er reißt von zu Hause aus und schließt sich dem Eigentümer des Apparats, Meister Bo, als Assistent an. Mit Meister Bo tourt er durch die Lande und lernt alle möglichen Arten von Schaustellern und Kleinkünstlern kennen. Doch die damals unbekannten Gefahren der Röntgenstrahlung des Durchleuchtungsapparats fordern ihren Tribut. Erst stirbt eine Ziege, die Mathis regelmäßig für die Zuschauer durchleuchtet, dann Meister Bo und auch Mathis wird einige seiner Finger verlieren. Mathis erkennt die Ursache nicht und macht weiter. Sein Gewerbe führt in zum Oktoberfest in München und zum Panoptikum in Zürich. Dort lernt er Meta kennen und beide gehen gemeinsam nach Paris und später nach Wien.

Mathis und Meta begegnen auf ihrer Reise skurilen Künstlern sowie (später) berühmten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Dabei verwebt die Autorin geschickt fiktive Begebenheiten und Personen mit realen Geschichten und Persönlichkeiten. Eine Liste der realen Personen ist am Ende des Buches aufgeführt. Neben der Darstellung der bunten, oft lauten Welt der Schausteller und Artisten, bringt die Autorin aber auch leise Töne zum klingen. Die Geschichten der Schausteller, die ihre körperlichen Abnormalitäten gegen Geld zur Schau stellen, stimmen nachdenklich. Ihre Verfolgung durch die Nazis ist ein Aspekt, dem bislang in der Literatur wenig Beachtung geschenkt worden ist.

Das Buch ist ein echter Schmöker, doch niemals banal. Der Roman ist prall und bunt auf der einen Seite, mit ernsthaftem Hintergrund auf der anderen Seite, und bekommt daher eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.