Rezension Rezension (4/5*) zu Die allertraurigste Geschichte von Ford Madox Ford.

Leseglück

Aktives Mitglied
7. Juni 2017
543
1.272
44
67
Buchinformationen und Rezensionen zu Die allertraurigste Geschichte von Ford Madox Ford
Kaufen >
Ein guter Soldat?

"Die allertraurigste Geschichte" von Ford Madox Ford, neu aufgelegt im Diogenes Verlag im Jahr 2018, erschien zuerst 1915 unter dem Titel: "The good soldier." Dieser Roman wird von vielen Literaturkritikern als Meisterwerk bewertet, entsprechend präsentiert der Verlag das Buch in einem hübschen Schmuckschuber. Schon vor der Lektüre hat man das Gefühl, einen besonderen Roman in der Hand zu halten. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht. "Die allertraurigste Geschichte" ist wirklich ein ganz besonderer Roman. Für mich allerdings weniger wegen des Inhalts der Geschichte, sondern wegen der Art und Weise wie sie erzählt wird. Der Ich-Erzähler - John Dowell - wendet sich immer wieder direkt an uns Leser. Er nennt uns mehrmals seinen "stillen Zuhörer" auf der anderen Seite des Kamins. Damit zieht er den Leser in die Geschichte hinein, aber "still" zu sein, genau das fällt beim Lesen schwer. Immer wieder hat man den Impuls, dem Erzähler zu widersprechen, ihm zu zu rufen, dass das doch gar nicht stimmt was er sagt, dass er sich widerspricht, und vor allem: dass er sich etwas vormacht und die Realität nicht sehen will oder kann.
Ungewöhnlich ist auch der Aufbau der Geschichte. Der Erzählfaden ist zu einem komplexen, verworrenen Knoten geformt. Der Erzähler springt in der Zeit vor und zurück, erzählt Geschichten mehrmals mit unterschiedlichen Akzenten, legt ständig dicke Hinweiszeichen aus, auf die er aber erst viele Seiten später eingeht. Fast amüsant ist dabei der Umstand, dass dies wiederum im Roman reflektiert wird. Der Erzähler entschuldigt sich zwischendurch für seine Art des Erzählens: "Ich weiß ich habe die Geschichte in einer sehr weitschweifigen Weise erzählt, so dass es schwer fallen mag, den Weg durch diese Art Labyrinth zu finden. Ich kann es nicht ändern. Ich habe an meiner Vorstellung festgehalten, ich säße in einem Landhaus und mir gegenüber ein stiller Zuhörer..."
In dieser Erzählweise liegt für mich der Reiz des Romans, zumal der Autor wunderbar schreiben kann. Die Geschichte an sich wirkt ein bisschen aus der Zeit gefallen. Worum geht es?
Zwei Ehepaare aus der Oberschicht, die Dowells und die Ashburnhams treffen sich über viele Jahre immer wieder zur Kur in Bad Nauheim. Sie sind oberflächlich gesehen befreundet. Schon zu Beginn der Geschichte erfahren wir jedoch, dass sich unter der Oberfläche seelische Dramen abgespielt haben und auch, dass zwei der vier Protagonisten zum Zeitpunkt der Erzählung jung gestorben sind. Eine wichtige Figur ist Edward Ashburnham, der vom Erzähler als guter Soldat und Landedelmann dargestellt wird. Aus der Geschichte geht aber auch hervor, dass er ein notorischer Ehebrecher und Verschwender ist (was vom Erzähler nicht negativ bewertet wird). In der Beurteilung der Charaktere der Protagonisten sind wir Leser allein gelassen, denn wir haben unsere Informationen nur von einem - wie wir im Laufe des Romans immer wieder festgestellt haben - unzuverlässigen Erzähler.

Insgesamt ein ganz ungewöhnlicher Roman, bei dem es um Schein und Sein und um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Bewertung von Charakteren geht. Nicht leicht zu lesen, aber es lohnt sich auf jeden Fall, sich auf diese Lektüre einzulassen.